Freitag, 21. August 2009

Wichtiger Hinweis: Blind-PR zieht um

Blind-PR zieht um. Nachdem sich die Stimmen häuften, wonach Blogger nicht barrierefrei sei, habe ich mich entschlossen, mit meinem Blog zu Wordpress zu wechseln. Dort sollte das Navigieren mit Screenreader, Vergrößerungssoftware, Sprachausgabe und Braillezeile einfacher sein als bisher. Auch das Hinterlassen von Kommentaren ist hier mit weniger Hürden zu meistern.

Falls Sie Blind-PR über Ihre Favoriten bzw. Lesezeichen abrufen, ändern Sie diesen Eintrag bitte. Die neue Adresse ist http://blindpr.wordpress.com. Wenn Sie meine Einträge mithilfe eines RSS-Readers lesen, können Sie auf der neuen Blog-Seite die jeweiligen Feeds abonnieren. Sollten Sie noch Fragen haben, hinterlassen Sie gern einen Kommentar oder schicken Sie mir eine E-Mail. Ich hoffe, dass Sie Blind-PR auch zukünftig treu bleiben.

Sonntag, 16. August 2009

Typisch Almodóvar

Sollte sich ein blinder Mensch, einen Film anschauen, den der Tagesspiegel als "ein einziges großes visuelles Fest, ein Rausch in Farben" beschreibt? Ich habe es getan, weil es ein Film von Pedro Almodóvar ist - und in denen wird viel gesprochen, erklären sich die Szenen meist auch ohne die Beschreibung der Bilder. So ist es auch in "Zerrissene Umarmungen". Im Zentrum stehen die Erinnerungen von Mateo, einem erblindeten Regisseur: Erinnerungen an Leidenschaft und Liebe.

Ich befürchtete eine eindimensionale Darstellung von Blindheit. Nach dem Motto: Der seit vierzehn Jahren blinde Regisseur schwelgt immer noch in Selbstmitleid und in der Sehnsucht nach der sehenden Vergangenheit - und eigentlich ist er eh nur als Metapher zu verstehen. Aber nein. Mateo arbeitet als Drehbuch-Schreiber, er liest die Zeitung mithilfe seines sprechenden Computers, er hat Liebschaften. Und er hat eine Vergangenheit. Und die kommt aus heiterem Himmel mit voller Wucht zurück. Mateo setzt sich mit seinen Verlusten auseinander: der Verlust der Geliebten von einst wiegt dabei schwerer als der Verlust des Sehens. "Zerrissene Umarmungen" ist ein typischer Almodóvar: Verluste, dazu Unausgesprochenes, das endlich ausgesprochen wird. In den Filmen des Spaniers stellen sich die Menschen der schrecklichen Wahrheit. Und das ist erleichternd und menschlicher als ein Leben in Ungewissheit. Der Film mit Penélope Cruz und Lluís Homar ist in dieser Hinsicht nicht so eindrucksvoll wie zum Beispiel "Alles über meine Mutter". Aber ein Kino-Besuch lohnt sich allemal.

Donnerstag, 13. August 2009

Blind in Skandinavien

Wir neigen dazu, Reiseländer durch eine rosarote Brille zu betrachten. Überall auf der Welt erscheinen die Menschen freundlicher als daheim, überall sei die Landschaft schöner, das Klima milder. Dabei ist wohl ein Gutteil Projektion, schließlich sind wir im Urlaub entspannt, fröhlich, neugierig. Könnten wir uns diese Einstellung zuhaus bewahren, kämen uns Hamburg, Berlin und Bielefeld gleich viel freundlicher vor. Dennoch glaube ich, dass wir Deutschen im Umgang mit behinderten Menschen vom Ausland lernen können.

Wie häufig höre ich in Deutschland - in Pensionen, auf der Straße, im Bus - ein mitleidiges "Geht das mit der Stufe?" oder ein erschrecktes "Vorsicht!"? Und das nicht nur, wenn ich allein unterwegs bin, selbst wenn ich an der Seite meiner Freundin gehe, sind diese Kommentare standard. Oder ich werde gleich ganz ignoriert. Fragen, die ich stelle, werden dann nicht mir beantwortet, sondern mein Gegenüber wendet sich hilflos oder herablassend an meine Begleiterin. In acht Tagen Dänemark und Schweden ist mir ein solches Verhalten nicht begegnet.

Und es gab noch mehr Kleinigkeiten, über die ich mich im Urlaub freuen konnte: sehr markante Rillen-Platten führten sehbehinderte und blinde Menschen durch Kopenhagens Innenstadt - bei uns findet man ähnliches meist nur in Bahnhöfen. Signalampeln waren in Kopenhagen, Malmö und Ystad der Normalfall. Während sich Hamburger Behörden ständig Sorgen um die vom Ampellärm angeblich so arg geplagten Anwohner machen, waren die skandinavischen Ampeln deutlich lauter als die unsrigen und sie machten immer ein anderes Geräusch, wenn es grün wurde. In Hamburg muss ich immer erst zum Ampelpfosten gehen und dort einen speziellen Knopf drücken, bevor die Ampel bei der nächsten Grünphase piept. Und die schwedischen Ampeln verfügen über einen Tastplan. Auf ihm konnte ich ertasten, wie die Kreuzung aufgebaut war, sprich: wieviel Autospuren sie hatte, in welche Richtungen die Fahrzeuge fuhren usw. Blindenschrift hatte ich in meinem schwedischen Reise-Alltag häufiger unter den Fingern als hierzulande: Bei den Geldautomaten waren die Tasten mit eindeutigen Braille-Markierungen versehen. Anders als in Hamburg konnte ich selbst ertasten, wo die Korrektur- und Bestätigungstaste waren. Und auch die WC-Tür im Tourismusbüro von Ystad war mit Blindenschrift gekenntzeichnet. All dies sind kleine, alltägliche Zeichen dafür, dass man als behinderter Mensch Teil der Gesellschaft ist. Davon kann Deutschland noch einiges lernen.

Samstag, 8. August 2009

Skandinavien: Das Jante-Gesetz

  1. Du sollst nicht glauben, dass du etwas bist.
  2. Du sollst nicht glauben, dass du genauso viel bist wie wir.
  3. Du sollst nicht glauben, dass du klüger bist als wir.
  4. Du sollst dir nicht einbilden, dass du besser bist als wir.
  5. Du sollst nicht glauben, dass du mehr weißt als wir.
  6. Du sollst nicht glauben, dass du mehr bist als wir.
  7. Du sollst nicht glauben, dass du zu etwas taugst.
  8. Du sollst nicht über uns lachen.
  9. Du sollst nicht glauben, dass sich irgendjemand um dich kümmert.
  10. Du sollst nicht glauben, dass du uns etwas beibringen kannst.

Quelle: http://de.wikipedia.org/wiki/Jant eloven

Mittwoch, 5. August 2009

Entspannt in der Wallanderstadt

Nach drei Tagen Kopenhagen waren die bezaubernde Anna und ich erst so richtig in Urlaubsstimmung. Daher fuhren wir nicht zurück nach Hamburg, sondern über die Öresund-Brücke nach Malmö in Schweden. Da Malmö selbst wenig ansprechend ist, studierten wir die Fahrpläne am dortigen Bahnhof. Die meisten Haltestellen sagten uns nichts, waren es sehenswerte Kleinstädte mit touristischer Infrastruktur oder winzige Dörfer ohne Unterkunft für uns (ein Zelt hatten wir nicht im Gepäck)? Eine Stadt, deren Namen ich kannte, war Ystad. Wenngleich ich mit der südschwedischen Stadt vor allem regnerische Herbsttage, depressive Lebenskrisen und brutale Mordfälle in Verbindung brachte, so fand ich es doch reizvoll, einmal in die Stadt von Kommissar Wallander zu fahren.

Ystad präsentierte sich ganz und gar nicht unfreundlich. Eine ruhige, im Zentrum autofreie Kleinstaft empfing uns. Nach dem Kopenhagener Hauptstadt-Trubel war dies ein willkommener Kontrast. Schnell - spätestens als wir unsere Füße in die kräftige Brandung der Ostsee hielten - war uns klar, dass wir einige Tage hier bleiben würden. Es wurden vier erholsame Tage.

Unsere Ferienwohnung lag neben dem Polizei-Revier des TV-Wallanders, Sprich: auf dem Gelände der Ystadstudios, dem Film-Zentrum Schwedens. Von hier aus kamen wir in wenigen Minuten in ein weitläufiges Waldgebiet. In einer Viertelstunde waren wir am Meer. Wald und Meer prägten auch unsere schönste Wanderung. Wir liefen von Ystad nach Nybrostrand. Der rund zweistündige Marsch führte uns durch schattigkühle Nadel- und Laubwälder, an Farnen und Schilf vorbei, durch Felder, in denen sich Hummeln, Grillen und Schmetterlinge tummelten. Und während der ganzen Zeit war die rauschende Ostsee wenige Meter neben uns. Immer wieder konnten wir kleine Wege nehmen, die uns an den fast menschenleeren Strand führten.

In Sachen Wandern enttäuschend, aber dennoch eine Reise wert ist Kåseberga, das wir mit dem Bus ansteuerten. Hier gibt es mythische Steinkreise. Die Menschenüberragenden und tonnenschweren Felsen stehen auf einem Hügel, weit unten schlagen die Ostseewellen an die Küste. Man kann sich gut vorstellen, dass die Menschen vor Jahrtausenden hier spirituelle Erfahrungen machten.

Montag, 3. August 2009

Kopenhagen: Die überraschende Hauptstadt

Abstand vom Alltag, neue Eindrücke, ungestörter Urlaub mit der Liebsten. Drei Tage Kopenhagen standen an. Dänemarks Hauptstadt ist immer wieder eine Reise wert. Obwohl sie relativ klein ist und die Wege kurz sind, ist sie eine Metropole. Touristen kommen aus der ganzen Welt, das Sprachenwirrwarr ist beeindruckend. Trotz der enormen Bierpreise platzen die Pubs aus allen Nähten. Der süßlich-scharfe Duft von Hotdocgs erfüllt die Straßen. Allerorten erklingt meist melancholische Livemusik. Bei strahlendem Sonnenschein genießen wir eine geführte Hafenrundfahrt - für einen Hamburger kaum vorstellbar, sie kommt ganz ohne abgeschmackte Kalauer aus -, ein schöner und informativer Spaß. Das offene Boot windet sich durch die schmalen Kanäle. Immer wieder werden wir aufgefordert, sitzen zu bleiben, da die Brücken sehr niedrig sind. Unsere Touren-Leiterin berichtet in fließendem englisch, spanisch und dänisch über moderne Architektur, über Hausboote und deren Bewohner, gibt Restaurant-Tipps und führt in Dänemarks königliche Geschichte ein.

Ebenfalls bei sommerlichem Wetter fahren wir am nächsten Tag nach Helsingør. Hier steht - rund 40 Minuten entfernt vom Kopenhagener Hauptbahnhof - das Hamlet-Schloss Kronborg. Dass es die historische Person Hamlet höchstwahrscheinlich nicht gab und sie sicher nie in diesem Schloss war, tut den Besucherströmen auf Kronborg keinen Abbruch. Schließlich hatte Shakespeare hier seinem erfundenen Hamlet "Sein oder Nichsein" sagen lassen. Und in der Tat lohnt sich ein Ausflug nach Helsingør. Fasziniert waren wir von den Kasematten, den düsteren, schaurig kalten, feuchtschimmeligen Keller-Anlagen. Hier hatten dereinst rund 1000 Soldaten und deren Proviant für sechs Wochen Platz gefunden. Heute wäre man wenig überrascht, wenn plötzlich Hamlets Geist dort auftauchen würde. Überall zweigen noch dunklere, noch kältere Räume ab, unter den Füßen knirschen Erde und Geröll. Es tropft von den Decken. Unebene Treppen führen in noch tiefere Tiefen. Gänge werden schmaler und schmaler. Die eigenen Schritte hallen mancherorts wie in einem Horrorfilm. Ein unheimlicher Kontrast zu Kopenhagen im Sommer.

Dass Kopenhagen eine Weltoffene Metropole ist, die ihren Touristen viel überraschendes bietet, zeigte sich nicht nur im Tivoli. Der Freizeitpark liegt direkt am Hauptbahnhof und bietet Gastronomie, Fahrgeschäfte, Theater und Konzerte. Wir hätten mit unserem Ticket zum Beispiel die Kaiser Chiefs live und open air sehen können. Stattdessen gingen wir in die City. Dort erwartete uns ein überfüllter Rathausmarkt, auf dem eine ältere Dame eine flammende, englischsprachige Rede für Freiheit, Toleranz und Respekt hielt. Es war Kopenhagens sozialdemokratische Bürgermeisterin Ritt Bjerregaard. Wir waren zufällig auf der Eröffnungsfeier der World Out Games, einer Art olympischer Spiele der Lesben, Schwulen und Transsexuellen. Ich wusste bis zu diesem Moment nicht, dass es so etwas überhaupt gibt. Reisen bildet.

Mittwoch, 22. Juli 2009

TV-Beitrag: Mein Leben als... Blinder

Blinden und sehbehinderten Menschen wird häufig wenig zugetraut. Nicht aus Böswilligkeit, sondern meist aus Unwissenheit. Das TV-Wissensmagazin Galileo hat mich zwei Tage mit der Kamera begleitet. Daraus wurde ein interessanter und schöner Bericht, den ich guten Gewissens empfehlen kann. Den vollständigen Beitrag finden Sie im Prosieben-Video-Podcast.

Dienstag, 21. Juli 2009

Gastbeitrag: Alltag mit blinden Eltern

Wie ist es, als sehendes Kind bei blinden Eltern aufzuwachsen? In einem Gastbeitrag erinnert sich Ute Gerhardt. Vielen Dank für diesen spannenden Bericht!

Sowohl mein Vater als auch meine Mutter wurden bereits mit geschädigten Augen geboren und besuchten bis zum Beginn ihres Berufslebens die Blindenschulen in Ilvesheim bzw. Soest. An die vollständige Erblindung meines Vaters kann ich mich nicht erinnern. Die meiner Mutter verlief - bedingt durch Retinopathia pigmentosa - schleichend. Mich selbst sollte es eigentlich nie geben, denn 1969 war über die Ursachen der Augenerkrankungen meiner Eltern noch nicht viel bekannt und ein Genfehler nicht ausgeschlossen. Aber wie das Leben so spielt...

So richtig bemerkt, daß in meiner Familie etwas anders war, habe ich erst im Kindergarten.

Nein, falsch, ich muß mich korrigieren: Im Kindergarten habe ich erstmals festgestellt, daß Sehende unsere Familie als anders _empfanden_. Denn eines Tages fand - für mich völlig überraschend und unverständlich - ein Ausflug unserer Gruppe zu mir nach Hause statt. Dort angekommen, wurde meine Mutter von den anderen Kindergartenkindern darüber ausgefragt, wie sie denn kochen könne, waschen, lesen, schreiben, einkaufen, putzen... Ich verstand die Welt nicht mehr. Warum war für diese Kinder etwas Besonderes, was meine Mutter ganz selbstverständlich tagtäglich tat? Meine Verwunderung war sicherlich auch dadurch bedingt, daß der Freundes- und Bekanntenkreis meiner Eltern ebenfalls zu einem großen Teil aus Blinden bestand, die oft ihrerseits Kinder hatten - sowohl sehende als auch blinde.

In unseren Familien waren es wir Kinder, die unseren Eltern vorlasen, statt umgekehrt. Ich lernte Fahrpläne, Wagenstandanzeiger und Kontoauszüge lesen, bevor Kinder sehender Eltern überhaupt wußten, was eine Bank oder wo der Bahnhof ist. Ich war Mitglied der Stadtbücherei, bevor ich in die Schule kam. Ich lernte buchstäblich spielend Hindernisse im Dunkeln anhand des Echos wahrzunehmen, das sie zurückwarfen, wie mein Vater es mir beschrieben hatte. Ich lernte ohne hinzusehen ein Gefäß mit Wasser zu füllen und am Klang zu bestimmen, wie voll es ist. Ich führte meine Eltern durch unbekanntes Terrain - und auch ab und zu vor einen Laternenpfahl. Shit happens, da war ich nicht die Einzige. Und trotz all dieser Dinge waren es noch immer meine Eltern, die das meiste für mich taten. Nicht umgekehrt. Was die Augen nicht mehr hergaben, wurde durch Tast-, Geruchs- und Gehörsinn sowie Kombinationsgabe und Ideenreichtum kompensiert. Meine Mutter hat mich Blockflöte spielen und viele Gedichte gelehrt, mein Vater brachte mir das Schachspielen und Schwimmen bei und hat mir auf seinem Blinden-Atlas Geographie sowie die ersten Grundzüge der Astronomie erklärt. Beide haben qualifizierte Berufe ausgeübt. Sie haben mehr Bücher auf Tonband und in Brailleschrift gelesen als viele Sehende in Schwarzschrift. Für mich war also im Grunde alles genau wie bei anderen Kindern auch. Zunächst.

Mit den Jahren stellte ich allerdings fest, daß es durchaus Unterschiede gab. Teilweise sehr zweischneidige. Aussehen hat zum Beispiel bei der Auswahl der Freunde meiner Eltern nie eine Rolle gespielt. Ob sich jemand geschmackvoll kleidete oder als Punker herumlief, die Form eines Gesichts oder die Farbe einer Haut war schlicht nicht von Belang. Ich lernte durch meine Eltern von Anfang an auf andere Dinge zu achten. Auf Inhalt, Klang, Lautstärke und Tonfall der Stimme, auf den Duft (oder Geruch...), auf Händedruck, Schritt und Lachen eines Menschen. Der Rest war uninteressant. Da fand Multikulti und Integration ganz selbstverständlich statt. Das war die eine Seite der Medaille.

Die andere wurde sichtbar, wenn meine Mutter für mich Kleidung kaufen ging. Ich konnte ziemlich sicher sein, daß sie mit den Ladenhütern zu Hause ankam, die man den sehenden Müttern nicht andrehen konnte. Funktional und dem Wetter immer angemessen, aber größtenteils altbacken und hoffnungslos unmodern. Meine Eltern wußten schlicht nicht, was "in" war in meiner Altersgruppe. Bei einer Schulaufführung in der Westfalenhalle war ich das einzige von 400 Mädchen, das keine Jeans besaß. Mein Aussehen machte mich mit zur Außenseiterin. Man ließ sich gerne von mir Nachhilfe geben, aber zu Geburtstagen wurde ich sehr selten eingeladen. Ich war einfach nicht cool genug. Andererseits: Auch ich konnte meine Freundschaften somit schon früh daran messen, wer an mir selbst interessiert war, statt an den Marken meiner Kleidung, der Coolness meines Haarschnitts oder den Raffinessen meines bis heute nicht vorhandenen Make-Ups.

Interessanterweise war einer der Aspekte, auf die ich als Kind am häufigsten angesprochen wurde, das Fehlen eines Autos. Wie man auch ohne ein solches einkaufen oder weite Ferienreisen unternehmen konnte - und das noch dazu als Blinde mit Kind - war für viele offenbar ein Mysterium. Über den genauen Inhalt ihrer Zweifel und Befürchtungen kann ich nur spekulieren. Sie reichen vermutlich vom Warten auf dem falschen Bahnsteig" über ein Umsteigen in den verkehrten Zug bis hin zur Unfähigkeit, überhaupt Fahrkarten zu besorgen. Fakt ist jedoch. Bis ich die Grundschule beendet hatte, hatte ich mit meinen Eltern bereits mehrere europäische Länder bereist. Allesamt mit Zug & Taxi. Das ist mehr, als ein Großteil meiner Klassenkameraden von sich behaupten konnte.

Natürlich habe ich die Blindheit meiner Eltern auch wissentlich ausgenutzt. Noch etwas, auf das ich des öfteren angesprochen wurde. Die bekritzelte Tapete oder zerrissene Hose verschweigen... Mal eben bei Tisch noch eine Scheibe Käse mehr auf die Schnitte legen... Oder dem Vater die ungeliebte Mettwurst auf den Teller mogeln... Beim Essen ein Buch lesen... Kein Problem. Bis das Klappern des Löffels oder das Rascheln der Seiten beim Umblättern auffiel. ;-)

Der Alltag mit blinden Eltern hat mir sicherlich in mancher Hinsicht mehr Selbständigkeit und Wissen abverlangt und mehr Verantwortung auferlegt als den meisten Kindern sehender Eltern. Ich persönlich betrachte das allerdings heute noch als Vorsprung und muß auch ganz klar ergänzen: Wie in jeder Familie hängt der Werdegang eines Kindes mehr von der Persönlichkeit der Eltern als von deren Behinderung ab. Was zählte, war nie, was meine Eltern nicht konnten, sondern ihr Optimismus, ihr Interesse an Neuem, ihr Humor, ihr Wille, einen Weg zu finden, sich ihre Grenzen einzugestehen und ggf. auch Hilfe anzunehmen - für sich selbst oder für ihr Kind.

Freitag, 17. Juli 2009

Blindwerden vertuschen

Unter der Überschrift "Der lange Abschied vom Licht" erzählt das SZ-Magazin in seiner aktuellen Ausgabe die Geschichte von Charlotte. Charlotte ist 29, hübsch und eine erfolgreiche Architektin. Sie fährt Auto. Dabei ist sie fast blind. Infolge von Diabetes verliert sie nach und nach ihr Augenlicht. Ihre Arbeitskollegen wissen davon nichts.

Einfühlsam und unkitschig beschreibt Nina Poelchau Charlottes Leben, das gekennzeichnet ist von Angst. Es ist die Angst, enttarnt zu werden, die Angst davor, dass ihr Chef merkt, dass seine Mitarbeiterin nicht sehen kann und ihn jahrelang hinters Licht geführt hat. In dem Artikel heißt es:

"Heute empfindet sie Neid, fast Hass auf die Menschen um sie herum, weil sie das Normalste der Welt können: sehen. Sie will nicht blind sein, sich keine Selbsthilfegruppe suchen, schon gar nicht sich mit ihrem Schicksal versöhnen, sie zieht sich zurück. Sie möchte am liebsten nicht über ihr Problem sprechen, nicht mit ihrer Mutter, nicht mit den Geschwistern, den Freunden – und auch jetzt nicht."

Charlottes Lage ist besonders krass, aber auch typisch. Nina Poelchau zitiert mich in ihrem Artikel:

"Kunert, selbst blind, sagt, es sind im Kern die Phasen, die zu jeder schweren Lebenskrise gehören: Wer die Prognose »unheilbar« erfährt, will das zunächst nicht glauben. Erst hofft er auf eine Operation, setzt vielleicht auf einen Wunderheiler, wenigstens auf Stillstand. Und dann kompensiert er.

Unter Dauerstress, als ginge es ums Überleben: Mit ungeheurem Tempo werden Informationen verarbeitet und im Gehirn gespeichert, mit einem Fitzel Restsehen Bücher gelesen, Lebenserinnerungen aufgeschrieben. Dass Charlotte immer noch ab und zu Auto fährt – auch das: typisch, sagt Kunert. Dahinter steckt die Totalverweigerung, dieses Sich-selbst-Beweisen, dass alles, was zu einem Leben als sehender Mensch gehört, im Grunde immer noch geht.

Manchmal dauert diese Phase Jahre. Und dann kommt im besten Fall das Loslassen. Das Akzeptieren. Und die Erkenntnis, dass das Leben plötzlich wieder leichter wird, weil es anstrengender war, das Blindwerden zu vertuschen, als zu leben, ohne zu sehen. Kunert zählt auf, wie viele Hilfsmittel es für blinde Menschen gibt. Vom Sprachcomputer über die Selbsthilfegruppe, vom Blindenfußball über die Braille-Schrift bis zum Blindenhund."

Den vollständigen Artikel finden Sie auf der Homepage des SZ-Magazins.

Donnerstag, 16. Juli 2009

Gemeinschaftsstraße, ohne uns

Blinden und sehbehinderten Hamburgerinnen und Hamburgern drohen Gefahren durch Gemeinschaftsstraßen und Kreisverkehre. Hamburgs Senat will sogenannte Gemeinschaftsstraßen und Kreisverkehre bauen. Sehbehinderte und blinde Menschen werden dadurch in ihrer Selbstständigkeit eingeschränkt.

Stellen Sie sich einmal folgendes vor: Alle Ampeln, Straßenschilder, Bürgersteige und Verkehrsregeln werden abgeschafft. Autofahrer und Fußgänger sollen sich per Blickkontakt verständigen. Gut, das klingt vielleicht ganz nett, irgendwie ungezwungen, menschlich, unkompliziert. Jetzt stellen Sie sich aber vor, dass Sie nichts sehen können. Würden Sie dann noch allein über eine Straße gehen?

Ich selbst bin blind und orientiere mich mit meinem Gehör und dem weißen Stock. Ich gehe allein einkaufen, zum Arzt und zu meiner Arbeit ins Louis-Braille-Center. Dabei höre ich auf den Straßenverkehr, auf Signalampeln und verlasse mich auf Verkehrsregeln. Wenn das alles wegfällt, kann ich mich nicht mehr selbstständig und sicher in der Stadt bewegen.

In Hamburg könnte das bald Wirklichkeit sein. Der schwarz-grüne Senat plant sogenannte Gemeinschaftsstraßen. Der englische Begriff hierfür ist Shared Space. Die Bezirke sollen geeignete Orte festlegen. Bisher sind zum Beispiel die Lange Reihe in St. Georg und die Eimsbütteler Osterstraße im Gespräch.

"Wenn man einander in die Augen blickt, dann kann eigentlich nichts mehr schief gehen!" Das behauptete zumindest der Erfinder des Shared Space Konzeptes, Hans Monderman. Der Niederländer sagte weiter: "Die Leute wissen nicht mehr genau, was sie tun müssen, was ich auch beabsichtigt hatte. Denn nun suchen sie Augenkontakt. Und sobald der da ist, gibt es eigentlich keine Probleme mehr, weil Augenkontakt nur bei niedriger Geschwindigkeit möglich ist."

Die Befürworter von Shared Space erhoffen sich ein Sinken der Fahrzeuggeschwindigkeit, weniger Unfälle, weniger Kosten, ein soziales Verkehrsverhalten, mehr Lebensqualität, eine Belebung öffentlicher Räume und nicht zuletzt eine Stärkung des Einzelhandels. Alles gute Argumente, die uns jedoch völlig ausgrenzen.

Denn für uns sehbehinderte und blinde Menschen ist Augenkontakt nicht möglich. Und auch Kinder, Senioren und geistigbehinderte Menschen können überfordert sein. Deshalb hat sich der Verwaltungsrat des Deutschen Blinden- und Sehbehindertenverbandes auf seiner diesjährigen Sitzung entschieden gegen die Einführung von Shared Space Bereichen in deutschen Kommunen ausgesprochen, und dies weil:

  • Orientierung und Sicherheit für blinde und sehbehinderte Menschen in diesen Arealen grundsätzlich nicht gewährleistet sind;
  • die Fahrbahn weder visuell noch taktil erfassbar ist;
  • Bordsteinkanten als Orientierungshilfe fehlen;
  • die Aufnahme von Blickkontakt zu anderen Verkehrsteilnehmern nicht möglich ist;
  • das Halten und Parken der Kraftfahrzeuge in diesen Bereichen nicht geregelt ist;
  • eine Geschwindigkeitsbeschränkung für diese Bereiche nicht gesetzlich festgelegt ist;
  • Leitlinien und Aufmerksamkeitsfelder in diesen Bereichen keine Verkehrszeichen im Sinne der Straßen-VerkehrsOrdnung darstellen.

Nach aktuellen Vorgaben soll in jedem der sieben Hamburger Bezirke eine Shared-Space-Fläche gebaut werden. Umsetzung und Folgen sollen wissenschaftlich begleitet und ausgewertet werden. Schon sehr viel konkreter sind die Planungen für Kreisverkehre. Rund 100 Ampel-Kreuzungen sollen in Kreisel umgebaut werden. Grund: Kreisverkehre sind billiger. Es entfallen die Wartungskosten für Ampeln. Und wir haben wieder ein Problem: Wir orientieren uns vor allem am Wechsel des Verkehrsflusses. Wo stehen und wann fahren Autos? Ruhender Verkehr fällt bei Kreisverkehren weg, was eine selbstständige Überquerung erschwert und zusätzliche Gefahren für uns birgt. Mindestens müssen Überwege kontrastreich und ertastbar gekennzeichnet werden, damit wir sie zuverlässig finden können und bei einer Lücke im Verkehr selbstständig über die Straße kommen.

Vielen Politikern und Behörden-Vertretern sind die Gefahren von Shared Space und Kreisverkehren nicht bewusst. Das bedeutet viel PR-Arbeit in den nächsten Monaten. Der Blinden- und Sehbehindertenverein Hamburg wird sich dafür stark machen, dass schlechte Augen nicht gleichbedeutend sind mit der Unfähigkeit, sicher über eine Straße zu kommen. Jeder, der uns dabei unterstützen möchte, ist herzlich willkommen. Wenn Sie Fragen oder Anmerkungen zum Thema haben, hinterlassen Sie gern einen Kommentar oder schreiben Sie mir eine E-Mail.

Freitag, 10. Juli 2009

Ein Hürdenlauf

Relaunch ist ein beliebtes Wort im Web. Kündigt ein Onlineshop, ein Nachrichtenportal oder ein soziales Netzwerk einen Relaunch an, hält sich meine Begeisterung meist in Grenzen. Stattdessen frage ich mich, ob ich die Seite zukünftig noch werde nutzen können. Für blinde und sehbehinderte Menschen ist das Bewegen im Netz nicht Surfen, sondern ein Hürdenlauf. Denn schließlich muss der Screenreader die Website so umsetzen, dass sie mit Vergrößerungssoftware, Braillezeile oder Sprachausgabe gelesen werden kann.

Den letzten Teil meiner "Blind-im-Web"-Serie finden Sie bei den Blogp iloten.

Freitag, 3. Juli 2009

Schwer vorstellbar: Sehen mit der Zunge

Wenn ich sehenden Menschen vom Alltag Blinder und Sehbehinderter berichte, ernte ich oft Erstaunen. Kochen ohne Augenlicht, ins Kino gehen, Arbeiten am PC, das Nutzen von Farberkennungsgeräten können sich viele nicht vorstellen. Manchmal stolpere ich aber auch über Innovationen, die selbst ich mir nur schwer vorstellen kann. Mehrere Medien - darunter die Märkische Allgemeine - berichteten in den vergangenen Wochen über den Brainport. Mit plakativen Überschriften wie "Sehen mit der Zunge" informierten die Journalisten über ein System, das visuelle Eindrücke so umsetzt, dass sie mit der Zunge wahrgenommen werden können. Der blinde Bergsteiger Erik Weihenmayer gehört zu den ersten Amerikanern, die Brainport testen. Er berichtet, dass er dank des Hilfsmittels "Schere, Stein, Papier" mit seiner Tochter spielen kann. Weiter gelingt es ihm, nach einem zugerollten Ball oder einer Kaffeetasse auf dem Tisch zu greifen. Und er sieht zum ersten Mal schemenhaft die Gesichter seiner Frau und seiner Kinder.

"Es ist dein Gehirn, das sieht - nicht die Augen", erklärt Weihenmayer, der eine Sonnenbrille mit einer winzigen Kamera auf der Nase trägt. "Und wenn die Augen nicht funktionieren, müssen die Bilder einen anderen Zugang zum Hirn finden." Weiter heißt es in der Märkischen Allgemeinen: "Etwa über die Zunge, wie es beim "BrainPort" geschieht. Das Gegenstück zur Kamera ist nämlich ein drei Quadratzentimeter großes Plättchen, das wie ein Lutscher in den Mund geschoben wird. "Die digitalen Kamera-Bilder werden in elektrische Signale umgewandelt und über bis zu 600 Elektroden als Pixel an die Zunge weitergegeben", erklärt Programmleiter Michael Oberdorfer vom National Eye Institute. "Die Idee des BrainPorts ist es, defekte Sinne zu ersetzen." Bei der Blindenschrift Braille etwa, gelangen Zeichen durch den Zeigefinger ins Hirn. "Das Hirn ist formbar und es lernt, auch über Umwege an Informationen zu kommen. Und ein Organ, das sich wegen seiner extremen Sensitivität dazu eignet, ist die Zunge.""

Mir stellen sich viele Fragen: Wieviel Nutzen bringt Brainport im Alltag? Welche Details sind damit zu erkennen? Die Markteinführung soll nicht mehr lang auf sich warten lassen. Testen werde ich es gewiss.

Dienstag, 23. Juni 2009

Fehmarn: Da fehlt nichts

Schon im Zug höre ich das Schreien der Möwen, eigentlich kein schöner Gesang, und doch ist es in mir mit Urlaub, Ruhe und Glück verknüpft. Die bezaubernde Anna und ich sind auf Fehmarn. Für mich ist es eine Premiere. Die Sonneninsel macht ihrem Namen alle Ehre. Nur einmal geraten wir in zwei Tagen in einen Schauer. Und selbst ein kleiner Schauer stört nicht wirklich, wenn man dabei durch den Sand stapft und neben einem die Wellen an den Strand schlagen.

"Wie reisen Blinde?", fragte mich jüngst eine Journalistin.

Wie jeder andere Mensch auch, nur dass meine Eindrücke teils andere sind. Mein Eindruck von einem Reiseziel ist - wie all meine Eindrücke - ein akustischer, ein gefühlter, ein duftender.

"Da fehlt doch das Wichtigste", werden jetzt vielleicht einige sehende Leser denken.

Dazu kann ich nur sagen: Fehmarns Strand duftet gleichzeitig nach Meer und grüner Weide, die Wellen kühlen meine Füße, der Sand ist mal mit glatten und kleinen, mal mit großen und rauhen Steinen durchzogen, mal mit Muscheln, die beim Auftreten knirschen. Wir liegen im Sand. Die Sonne scheint auf uns. Der Wind weht über unsere Gesichter. Menschen lachen. Schafe blöken. Möwen und Krähen rufen ihre markanten Schreie. In der Ferne hören wir einen Kuckuck. Hunde stapfen durch den Sand. Die Wellen rauschen gleichmäßig und sanft. Anna und ich erzählen uns, was wir hören. Ich vermisse nichts.

Freitag, 19. Juni 2009

Selbsthilfe 2.0

„Wie sind Sie auf uns aufmerksam geworden?“ Diese Frage stellen wir den neuen Mitgliedern des Blinden- und Sehbehindertenvereins. Häufig lautet die Antwort: „Über das Internet.“ Meist haben Angehörige online nach Hilfe-Angeboten gesucht, die der Großmutter mit Diabetes oder dem Vater mit grünem Star das Leben erleichtern. Bei Google wird nach Lupen, nach Informationen über Augen-Erkrankungen oder Beratungsangeboten gesucht. Die gemeinnützigen und unabhängigen Selbsthilfe-Organisationen sollten daher anstreben, im Suchmaschinen-Ranking vor kommerziellen Anbietern aufzutauchen. Der wichtigste Schlüssel hierzu ist informativer Content.

Meinen kompletten Artikel zur Selbsthilfe 2.0 finden Sie bei den Blogp iloten.

Freitag, 12. Juni 2009

Mini-CeBit 2009: die Highlights

Die Mini-CeBit 2009 geht ihrem ende entgegen. Über 20 Hilfsmittel-Aussteller stellten an zwei Tagen elektronische Produkte vor, die sehbehinderten und blinden Menschen den Alltag erleichtern. Alle wissenswerten Infos zur Messe im Louis-Braille-Center bietet - manchmal ist die Medien-Landschaft erstaunlich - der österreichische Standard auf seiner Homepage.

Freitag, 5. Juni 2009

Blogs als Chance

„Gehst Du ins Kino?“, fragten meine Mitschüler. In der Uni hieß es: „Kannst Du die Referatstexte lesen?“ Und heute im Beruf: „Kann ich Ihnen E-Mails schicken?“ Fragen beantworten ist für blinde Menschen Alltag. Und häufig sind die Fragen Auftakt zu einem spannenden Erfahrungsaustausch. Für mich als PR-Fachmann sind Dialog und Schreiben alltäglich. Warum nicht das Medium Blog nutzen, um bemerkenswerte Ereignisse aus meinem Beruf und meiner Freizeit zu berichten?

Den vollständigen artikel finden Sie bei den Blogpiloten.

Donnerstag, 4. Juni 2009

Blind im Alter

Wie stellen Sie sich eine blinde Seniorin vor? Viele Menschen antworten auf diese Frage wohl mit "Hilfebedürftig", "einsam" und "unglücklich". Diese Schlagworte treffen auf Ruth Wunsch nicht zu. Die 78jährige, blinde Hamburgerin bereist die ganze Welt, lacht viel, engagiert sich in der Kirche und im Blinden- und Sehbehindertenverein Hamburg, dessen Ehrenmitglied sie ist. Und sie schreibt: eine Biografie, Reisebücher und einen bewegenden Brief an die Zukunft. Mit ihrem Text gewann Ruth Wunsch den Seni oren-Schreibwettbewerb von Aktion Mensch und Diakonie. Sie und ihr Co-Autor Matthias Brömmelhaus lesen am kommenden Mittwoch, 10. Juni, 19 Uhr, auf der Flussschifferkirche Hamburg. Mehr Infos zu dem Tour-de-Braille-Event finden Sie auf der Homepage des BSVH.

Dienstag, 26. Mai 2009

Blind in Web: Ein Stück Normalität

Blinde und sehbehinderte Menschen lesen Zeitung. Sie gehen allein einkaufen. Und sie arbeiten. Internet sei dank. In einer kleinen Serie von Gastbeiträgen stelle ich das blinde Netz bei den Blogpiloten vor. Ich bedanke mich bei Steffen Büffel und seinem Team für die Zusammenarbeit.

Freitag, 22. Mai 2009

Antworten an Himmelfahrt

An regnerischen Feiertagen wie Christi Himmelfahrt, an denen Hagel und Gewitter über die Hansestadt herfallen, kann unsereins ganz ohne schlechtes Gewissen ins Web abtauchen. Gern schauen die bezaubernde Anna und ich dann bei Blogthings.com vorbei. Gerade in Zeiten, in denen Facebook von stümperhaften und langweiligen Quiz-Applikationen überschwemmt wird, sind die kleinen Tests bei Blogthings ein wahrer Segen. Liebevoll und humorvoll sind sie geschrieben, viele Fragen regen zum Nachdenken an. Die Ergebnisse sind menschenfreundlich und erfrischend unzynisch.

Einige Ergebnisse: Ich bin Yellow, Shampoo, Super Spiritual, Observant in Life, mein Birthday's Wisdom is Creation, ich bin Blogthings zufolge Salty und The Bedroom, mein Hintern verrät über mich You're Competitive, ich glaube Love is Private, und meine letzten Worte werden sein "What we know is not much. What we don't know is enormous."

Gut, dass es das Web und Blogthings gibt: Sonst wüsste ich nicht, wer ich bin. Und was verrät die Seite über Sie? Ich freu mich auf Ihre Ergebnisse in den Kommentaren.

Dienstag, 19. Mai 2009

Blind = Arbeitslos

Blind bedeutet arbeitslos - zumindest meistens. Von den rund 150.000 blinden Menschen in Deutschland sind lediglich 15.000 in einem regulären Arbeitsverhältnis. Von denjenigen im berufsfähigen Alter sind das gerade knapp 30 prozent. Hiervon wiederum kommen die allerwenigsten in der freien Wirtschaft unter. Stattdessen arbeiten 90 prozent von ihnen in Verwaltungen oder gemeinnützigen Organisationen.

Es ist sehr ernüchternd als Blinder auf Jobsuche zu sein. In der Regel trifft man bei den Arbeitsagenturen auf überforderte und ratlose Berater. Freimütig sagte mir ein Jobvermittler, dass heutzutage blinde Menschen nach einem Eingliederungspraktikum kaum noch in ein reguläres Arbeitsverhältnis übernommen würden. Und wenn, dann würden sich die Arbeitgeber die ersten Beschäftigungsjahre von der Agentur subventionieren lassen. Sprich: die Agentur übernimmt bis zu 70 prozent der Lohnkosten. Nach zwei Jahren der Förderung säßen viele Betroffene dann wieder auf der Straße.

Dennoch ist die finanzielle Förderung vom Staat ein wichtiges Mittel, um überhaupt noch Arbeit für Behinderte zu ermöglichen. Denn immerhin ist der Lohnzuschuss an eine tarifliche Bezahlung gekoppelt. Davon träumen viele blinde Menschen. Ihr Alltag sind befristete Ein-Euro-Jobs, sinnlose Bewerbungstrainings und die frustrierende Dauersuche.

Die Oberhessische Presse schildert in ihrer heutigen Ausgabe zwei typische Fälle. Da ist zum einen der 21jährige Marco, der in diesem Jahr sein Fachabi in Marburg macht: "Wird er zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen, scheut er keine Kosten und Mühen. „Ich will schließlich unbedingt einen Ausbildungsplatz haben“, betont er. So steige er in die Bahn und fahre quer durch Deutschland, wenn es sein müsse.Gebracht hat es ihm bisher nichts. „Die Deutsche Bank, die Sparkasse, die Hypo Vereinsbank und die Spardabank haben mir abgesagt, teilweise sogar ohne weitere Begründung“, sagt er empört. Von der Commerzbank, an die er nach seinem Praktikum eine Bewerbung schickte, habe er nichts mehr gehört. „Dabei kann ich genauso arbeiten wie ein Sehender“, ist er sich sicher."

Und dann ist da Katharina, 36 und promovierte Germanistin. Sie sagte der Oberhessischen Presse: "„Seit drei Jahren suche ich nach einer Festanstellung." Im vergangenen Jahr habe sie rund 120 Bewerbungen geschrieben – ohne Erfolg. "Da kommt man irgendwann nicht umhin zu glauben, dass das an der Behinderung liegt".

Blindheit bedeutet nicht selten soziale Isolation. Kommt dann noch Arbeitslosigkeit mit all ihren Begleiterscheinungen dazu, ist das für den Einzelnen entmutigend und für die deutsche Gesellschaft ein Armutszeugnis.

Sonntag, 17. Mai 2009

Der ganz normale Bahnsinn

Verlieren Sie nie Ihre Bahn-Card in einem Zug der Deutschen Bahn. Als ich vor einigen Wochen mein Etui mit Ausweis und Bahn-Card beim Aussteigen am Dammtor im Abteil vergaß, ahnte ich nicht, welch einen Spaß ich noch haben würde. Der Zug sollte in Altona enden. Das Reinigungspersonal würde meine an sich wertlosen Sachen finden, und ich würde dann zum Fundbüro gehen, und alles wäre super. So dachte ich mir das. Die Realität war eine andere. Entweder wurde der ICE in Altona nicht gereinigt, oder das Personal nahm es nicht so genau mit den Fundstücken. Jedenfalls konnte mir die Online-Suche auch zwei Wochen nach dem Verlust kein Ergebnis liefern. Mein persönliches Vorsprechen im Fundbüro der Bahn am Hamburger Hauptbahnhof erbrachte nur eine patzige Antwort des Mitarbeiters: "Da stand ja Ihr Name drin. Sie hätten von uns gehört." Aha, Fehler ausgeschlossen, logisch.

Ähnlich hilfsbereit war der Mitarbeiter im Reisezentrum Dammtor, den ich für meine nächste Bahnfahrt um eine vorläufige Bahn-Card bat. Da ich dort bereits im Februar einmal eine solche erhalten hatte, wusste ich, dass das prinzipiell möglich ist. "Das machen wir nicht. Da müssen Sie die Bahn-Card-Hotline anrufen. Sie kriegen dann in zehn Tagen eine neue Karte, kostet 15 Euro. Und Sie müssen sich jetzt eine Fahrkarte zum vollen Preis holen. Die kriegen Sie später erstattet, das kostet auch 15 Euro." Ob der Verdacht, dass der Mitarbeiter seinem Job eher lustlos nachgeht, unbegründet ist? Ich erklärte ihm jedenfalls, dass ich bereits ein ermäßigtes Online-Ticket für die nächste Tour nach Frankfurt/Main hätte. "Da kann ich Ihnen gar nicht helfen. Online ist ja unsere Konkurrenz." Ich gab zu verstehen, dass doch alles Deutsche Bahn sei, ob nun Schalter oder Onlineshop. "Die Zeiten sind lange vorbei. Das sind alles eigene Firmen." Schön, wenn interner Wettbewerb auf Kosten des Kunden ausgetragen wird.

Der unfreundliche Dammtor-Mann wandte sich immer wieder an meine Begleitung, nicht an mich. Blinde Kunden sind wohl keine gleichwertigen Kunden. Wie dem auch sei: Selbst wenn der Herr von seinem Vorgesetzten eingeschärft bekommen haben sollte, dass er nicht die betriebsinternen Feinde vom Onlineverkauf unterstützen dürfe, so hätte er mir doch zumindest anbieten können, einmal beim Bahn-Card-Service anzurufen und zu klären, wie ich jetzt weiter vorgehen sollte. Nein, stattdessen kritzelte er einem nichtsehenden Kunden die Telefonnummer der Bahn auf einen kleinen Zettel und schickte mich weg. Mein Zug sollte in einer halben Stunde fahren. Service, Spontanietät und Offenheit sind bei der Bahn keine Tugenden.

Donnerstag, 14. Mai 2009

Sinn-voll: der 6. Juni 2009

Die Anzahl der Vorbereitungstreffen steigt und steigt. Alles muss geplant sein: Musik-Programm, Verpflegung, Infotische. Am 6. Juni findet rund ums Louis-Braille-Center das Fest der Sinne statt. Es wird ein besonderer Tag für alleBesucher - seien sie nun blind, sehbehindert oder sehend. An diesem Samstag wird der Blinden- und Sehbehindertenverein Hamburg (BSVH) seinen 100. Geburtstag mit der Hamburger Bevölkerung und seinen Barmbeker Nachbarn feiern. Ab 11 Uhr bis in den Abend gibt es im und rund um das Louis-Braille-Center, Holsteinischer Kamp 26, ein buntes Programm.

Merken Sie sich, lieber Blind-PR-Leser, den Termin vor und schauen Sie doch mal vorbei und erleben Sie, wie bunt, sinnlich und spannend das Leben sein kann - auch mit schlechten Augen. Mehr Infos zum Fest der Sinne gibt es auf d er Seite des BSVH.

Samstag, 9. Mai 2009

PR'üfungen

Acht Seminar-Wochen, zwei Repetitorien, etliche Tage mit Büchern über Theorie und Praxis der Öffentlichkeitsarbeit liegen hinter mir - und drei Klausuren. Am vergangenen Mittwoch und Donnerstag schrieb ich sie in Frankfurt am Main. Die Räume der Stiftung für Blinde und Sehbehinderte verwandelten sich in einen Prüfungsort. Elemente von PR-Konzeptionen, journalistische Textgattungen, Anforderungen an Pressemitteilungen waren Thema. Außerdem musste ich aus vorgegebenem Infomaterial innerhalb von 60 Minuten eine Pressemitteilung verfassen. Sechs sehbehinderte und blinde Köpfe rauchten. Unsere Finger rauschten über die Punkte unserer Braille-Zeilen. Wir lauschten den schnell gestellten synthetischen Sprachausgaben unserer PC's. Diejenigen von uns, die noch über ein bisschen Augenlicht verfügen, hatten ihre Gesichter dicht vor die zehnfache Vergrößerung auf ihren Laptop-Bildschirmen gepresst. Ich bin guter Dinge, dass wir alle die Prüfungen der Akademie für Kommunikationsmanagement bestehen und ich mich nach der mündlichen Prüfung am 29. Mai PR-Juniorberater (AKOMM) nennen darf. Hoffentlich behalten alle Teilnehmer der Weiterbildungsmaßnahme ihren Job oder finden einen neuen Arbeitgeber. Ich drück uns alle Daumen für die letzte Prüfung und für die berufliche Zukunft.

Geschichte: Eine Forderung der Gerechtigkeit

100 Jahre Blinden- und Sehbehindertenverein Hamburg (BSVH): Aus diesem Anlaaß gab Hamburgs Sozialsenator Dietrich Wersich am vergangenen Montag einen Empfang im Festsaal des Rathauses. Rund 250 Gäste aus Politik, Wirtschaft und Gesellschaft, Vertreter der Blinden- und Sehbehinderten-Organisationen, BSVH-Mitglieder, -Mitarbeiter und -Spender waren dabei. Unter Anderem lauschten sie einer Reise in die Geschichte.

Heute ist Berufsförderung blinder und sehbehinderter Menschen ein wichtiges Vereinsziel. Der BSVH hat eine Fachgruppe, in der sich sehbehinderte und blinde Menschen austauschen, die viel mit Computern und im Büro arbeiten. Oder wir haben eine Gruppe der Physiotherapeuten. Vieles von dem, was uns heute selbstverständlich erscheint, mussten die Vereinsgründer vor 100 Jahren erst erstreiten. So verhandelten sie mit dem Medizinalamt, um Blinden eine Ausbildung zum Masseur mit anerkanntem Staatsexamen zu ermöglichen. Es gab zur damaligen Zeit in Hamburg drei Blinde, die „inoffiziell“ von einzelnen Ärzten ausgebildet waren, doch ließ man sie nicht zu einer staatlichen Prüfung zu. Dadurch wurden sie zu den Kurpfuschern gerechnet und fanden keine Anstellung und kaum das Vertrauen der Patienten. Der Vorstand bemühte sich um eine grundsätzliche Lösung und schrieb im März 1911:

"Der unterzeichnete Vorstand richtet namens des von ihm vertretenen Vereins an das das hochlöbliche Medizinal-Kollegium zu Hamburg die ergebene Bitte, blinden Masseuren Gelegenheit zu geben, die Berechtigung zur Führung der Bezeichnung „staatlich geprüfter Masseur“ durch Ablegung einer Prüfung zu erwerben, (...) Unter der beschränkten Anzahl der Berufe, in denen die Blinden einen Erwerb zu finden vermögen, ist die Massage eine der wenigen, in welchen ein Nichtsehender voll und ganz dasselbe zu leisten vermag, wie seine sehenden Berufsgenossen. (...) Es ist daher zu beklagen, daß es in Hamburg einem blinden Masseur nicht möglich ist, eine amtliche Anerkennung seiner Leistungsfähigkeit zu erlangen, weil durch die Verordnung von 1902 die Berechtigung zur Führung der Bezeichnung „Staatlich geprüfter Masseur „ abhängig gemacht ist von dem Bestehen einer Prüfung, die nicht nur die Massage, sondern zugleich den gesamten Heildienst, insbesondere auch die Wundpflege umfaßt. Drei unserer Mitglieder versuchen hier in Hamburg ihr Brot als Masseur zu finden, sie sind in hiesigen staatlichen Krankenhäusern gründlich ausgebildet und geprüft und besitzen darüber Zeugnisse don den Herren Direktor Professor Dr. Schede, Professor Dr. Kümmell, Direktor Professor Dr. Derske. (…) Wir glauben, diese Bitte eine Forderung der Gerechtigkeit nennen zu dürfen, da unsere blinden Masseure sich nicht mit Wundpflege, sondern nur mit Massage beschäftigen können und wollen, und bereit sind, den Nachweis zu liefern, daß sie die von dem hochlöblichen Medizinal-Kollegium geforderte Qualifikation für diesen Beruf besitzen."

Der Blindenverein hatte Erfolg. Heute arbeiten in Deutschland Hunderte blinde und sehbehinderte Masseure und Physiotherapeuten.

Mehr Infos zur BSVH-Geschichte gibt es auf der Homepage des Vereins.

Montag, 4. Mai 2009

April: Eine Bilanz

Vögelzwitschern, -gurren, -fiepen. Ein Hauch von Wind zieht über sonnig erwärmte Haut. Vier Beine huschen durch das Gras und springen in den Teich. Ich beneide den Hund. Er springt unbeschwert in jedes Nass. Von Grenzwerten und Umweltverschmutzung weiß er nichts. Ein zauberhaftes Lachen tanzt neben mir. Zarte Hände greifen nach meinen. Dieser April ist Glück, ist Zukunft. Flugzeuge rauschen über den Stadtwald. Fahrrad-Familien surren vorbei. Die Welt ist in Bewegung. Und meine Welt steht still. Eine Leidenschaft ohne Leiden ist die absurde Freude dieser Tage. Dieser April bleibt.

Donnerstag, 30. April 2009

Keine Almosen

Über Geld spricht und schreibt man nicht. Gerade nicht, wenn man für einen Blinden- und Sehbehindertenverein arbeitet. "Mir ist das peinlich", höre ich von blinden menschen. Oder: "Ich will nicht betteln." Verständlich ist dieser Impuls. Schließlich waren behinderte Menschen über Jahrtausende Almosen-Empfänger. Und erst mit der Epoche der Aufklärung, der Industrialisierung und des technischen Fortschritts konnte der Kampf um gesellschaftliche Teilhabe beginnen. Dennoch: blinde und sehbehinderte Menschen brauchen auch heute Hilfe, Hilfe, die Geld kostet.

Im Hamburger Louis-Braille-Center beraten unsere Mitarbeiterinnen zu allen Alltagssorgen und Rechtsfragen, die sehbehinderten Menschen auf den Nägeln brennen. Die größte Hilfsmittelausstellung im Norden ermöglicht Betroffenen, sich neutral und unabhängig zu informieren. Eine Orthoptistin erprobt vergrößernde Sehhilfen mit Besuchern, die frisch an Makula-Degeneration, grünem Star oder einer Anderen Augen-Erkrankung leiden. All diese Angebote kosten Geld. Das Geld dafür bekommen wir nicht vom Staat. Allerdings sind wir als gemeinnützig anerkannt und daher steuerlich befreit.

Am vergangenen Samstag kamen unsere Mitglieder zur alljährlichen Generalversammlung zusammen. Themen waren u. A. der Finanzbericht für 2008 und der Haushaltsplan für das laufende Jahr. Und da zeigte es sich erneut: Unsere wichtigsten Einnahmequellen sind Spenden und Erbschaften. Ohne sie könnten wir unser umfangreiches Angebot nicht aufrecht erhalten. Ohne Spenden und Erbschaften könnten wir keine Freizeit-Angebote für mehrfachbehinderte Kinder - sie haben neben ihrer Erblindung noch eine Geistes- oder Körperbehinderung - und deren Eltern anbieten. Wir könnten keine Besuche zuhaus ermöglichen, bei denen mit sehbehinderten und blinden Menschen eingekauft, ein Arztbesuch erledigt, die Post vorgelesen oder einfach mal spazieren gegangen wird. Ohne Spenden und Erbschaften könnten wir keine begleiteten Ausflüge ins Museum oder an die Ostsee anbieten. Senioren-Nachmittage zum Gedanken- und Erfahrungsaustausch fielen weg.

Darüber muss man sprechen und schreiben. Es geht nicht anders, wenn man unser hilfreiches und ermutigendes Angebot aufrecht erhalten und weiter entwickeln möchte. Wir blinden und sehbehinderten Menschen wollen keine Almosen, aber wir freuen uns über Geld, das uns ein selbstbestimmtes Leben in dieser Gesellschaft ermöglicht.

Online können Sie hier helfen. Spenden-Konto: Bank für Sozialwirtschaft, Konto-Nr.: 785 850 0000, BLZ: 370 205 00. Mehr Infos zum Thema finden Sie auf der BSVH-Homepage.

Mittwoch, 22. April 2009

Bloggen ohne Blog

In Blogs bloggen Blogger. So ist das für gewöhnlich. Und was ist mit Menschen, die nicht ständig online sind, die nicht wissen, wie sie eine Homepage erstellen? Ihre Erfahrungen tauchen in Google-Suchtreffern nicht auf. Das ist fatal in Zeiten, in denen das Web das Maß aller Dinge wird, in denen Suchmaschinen-Rankings Relevanz bedeuten und Journalisten immer mehr im Netz recherchieren. Bei Twitter lernte ich das Projekt der Blogpaten kennen. Ihr Anliegen: Erfahrungsberichte von Menschen ins Netz bringen, die bisher keine Chance dazu hatten. Auf der Blogger-Patenschaften-Homepage können sich Blogger eintragen, die offen für Gastbeiträge sind. Auch Blind_PR taucht in dieser Liste auf. Also, wenn Sie gern bei mir bloggen möchten, wenn Sie Menschen kennen, die etwas zu sagen haben, das auf meine Seiten passen könnte, dann machen Sie doch gern auf diese Möglichkeit aufmerksam. Einige denkbare Themen: Erfahrungen bei Augenarzt und -OP's, Alltag mit Augenerkrankungen, Kultur- und Tourismustipps für Blinde und Sehbehinderte, aber auch die Erfahrungen sehender Menschen im Umgang mit Blinden. Selbstredend sind auch Profi-Blogger herzlich willkommen. Ich freue mich auf spannende Erfahrungen, ungewöhnliche Sichtweisen und auf noch mehr Vielfalt im Weltweiten Netz. Und ich drücke den Blogpaten die Daumen, dass sich ihre Idee herumspricht und dazu beiträgt, dass Menschen gehört werden, die sonst meist im Abseits der Gesellschaft stehen.

Dienstag, 21. April 2009

Ein Herz für Blogs

Heut hat die Web2.0-Welt ein Herz für Blogs. Das ist in Zeiten von Twitter ja schon oldschool, vielleicht gerade deswegen so charmant. Ich empfehle die folgenden Blogs:

  • Biopolitik - wegen der ungewohnten Denkweisen und der zu unrecht vernachlässigten Themen rund um Behinderung.
  • 49 Suns - Wegen der formidablen Rock-Expertise und eines fantastischen Musikgeschmacks.
  • Indiskretion Ehrensache - wegen der spitzen Feder und der gnadenlosen Bestandsaufnahmen.
  • J.A. Blog - Wegen der klugen Gedanken und des Mutes zum geschriebenen Wort
  • Menschenbilder - Wegen der literarischen Form und des reflektierten Inhalts.
  • PR-Blogger - Wegen der vielen nützlichen Web2.0-Tipps und des modernen PR-Verständnisses.

Sonntag, 19. April 2009

Infos und Zuversicht

Altersabhängige Makula-Degeneration - kurz: AMD - ist die häufigste Ursache für eine Sehbehinderung bei Menschen über 50 Jahren in Deutschland. Rund zwei millionen Bundesbürger leiden an ihr. Durch den demographischen Wandel wird die absolute Zahl der Erkrankten in den nächsten Jahren noch massiv steigen. Rund 80% der Menschen, die im Hamburger Louis-Braille-Center Rat suchen, sind AMD-Patienten. Das Interesse an altersabhängiger Makula-Degeneration ist riesig. Angehörige und Betroffene suchen nach Infos über Krankheit und Behandlungsmöglichkeiten. Im Zentrum steht meist der verständliche, aber leider unerfüllbare Wunsch danach, das Sehen zurückzubekommen. In der Regel kann der Verlauf von AMD nur gebremst, aber nicht rückgängig gemacht werden.

In der vergangenen Woche lud die Bezirksgruppe Südost des Blinden- und Sehbehindertenvereins Hamburg (BSVH) erstmals zu einem AMD-Infoabend ein. Der Erfolg der Veranstaltung war gewaltig. Kurze Aufrufe im Bille-Wochenblatt und in der Bergedorfer Zeitung brachten rund 70 Interessierte zu dem Vortrag von Augenarzt und AMD-Fachmann Dr. Bunse. Die Besucher fragten nach der Verträglichkeit von Medikamenten und Behandlungen, nach aktuellen Forschungsergebnissen. Und sie lauschten aufmerksam unserer Sozialberaterin, als sie von elektronischen Lupen, Hörbüchereien, unseren Hilfestellungen beim Erledigen der Behördenpost und bei Arztbesuchen und beim Einkaufen sprach. "Ich mach einen Termin mit Ihrer Sehhilfenberaterin aus", sagten Besucher. Andere freuten sich darüber, dass die Mitgliedschaft in der Hörbücherei kostenlos ist. Und das schönste Kompliment machte uns eine Besucherin: "der Abend war so überzeugend. Ich glaub, ich werd Mitglied bei Ihnen."

Mehr Infos zu AMD gibt es beim BSVH.

Ein altväterlicher Rat

Warum geht eigentlich kaum ein Mensch unter fünfzig in ein klassisches Konzert? Die Bezaubernde Anna und ich waren in den letzten wochen beim NDR-Sinfonie-Orc hester und in der Staatsoper. Sei es nun Debussy, Ravel oder Mozart. Von einem guten Orchester gespielt, von stimmgewaltigen Chören und von durchdringend-sanften Vokalsolisten gesungen, das ist eine Ohrenweide, das bewegt, das ist komplex und gleichzeitig wunderschön. Und das auch für Klassiklaien. Live ein Orchester vor sich zu haben, ist etwas ganz anderes als das seichtleise Gedudel aus dem Radio. Natürlich macht der durchschnittliche Musikunterricht an unseren Schulen nicht unbedingt Lust auf mehr. Auch ich hab den Zugang zur klassischen Musik erst Stück für Stück in den letzten Jahren gefunden. Ich empfehle, es mir gleichzutun, sonst geht der hohen Kunst irgendwann noch die Fan-Gemeinde aus. Das hätte sie nicht verdient.

Dienstag, 14. April 2009

Angst in der Spaßgesellschaft

In den letzten Jahren höre ich immer häufiger von Freunden und Bekannten, dass sie einfach nicht mehr können, ihnen das Leben über den Kopf wächst. Viele beginnen eine Psychotherapie. Ängste und Depressionen sind keine Seltenheit. Der Alltag um das dreißigste Lebensjahr, die unsichere, moderne Gesellschaft verlangen viel, oft zuviel vom Individuum. Und wir leben in einer Spaßgesellschaft. Wer berichtet da schon gern von seinen Befürchtungen, von seiner Traurigkeit? Ausgerechnet die Gute-Laune-Moderatorin Sarah Kuttner hat sich des Themas Depression in ihrem ersten Roman angenommen.

In "Mängelexemplar" lässt sie ihre Ich-Erzählerin Karo von Panik-Attacken, Selbstekel und Verzweiflung in einem lustigen Menschen berichten. Bei Karo kommen die Entlassung aus der Event-Agentur und das Ende einer ohnedies unglücklichen Beziehung zusammen. Diese Anlässe lassen Ihr Angstfass überlaufen. Karo landet in einer Therapie und beim Psychiater. Aus der Krise geht sie gestärkt hervor, muss aber auch einsehen, dass sie weiter auf unsicherem Boden laufen wird. Eine der beeindruckendsten Szenen im Roman ist der Moment, in dem die Erzählerin feststellt, dass sie nicht nur vor anderen Menschen die witzig-spritzige Sprücheklopferin spielt, sondern auch sich selbst belügt und betrügt. Wann hat man eine Krise überwunden und wann gaukelt man es sich nur vor?

Kuttners Roman ist kein tiefgründig-vielschichtiger Literatur-Meilenstein. Aber er passt in die Zeit. Und er ist - wie könnte es bei der Autorin anders sein - humorvoll und witzig. "Mängelexemplar" liest sich zügig und lässt einen doch nachdenklich zurück. Das Hörbuch mit fünf CD's liest die Autorin selbst und charmant.

Mehr Literatur bei Lovely Books.

Donnerstag, 9. April 2009

Zu früh

"Zu früh", denk ich. Kaffee- und Muffin-Duft dringt in meine Nase. Er kündigt mir das Ziel meines frühabendlichen Ausflugs an. Nach 50 Metern vernehme ich das typisch dumpfe, aber konstant laute Murmeln: vor allem weibliches Lachen, dazu männliche Geschäftigkeit und kindliches Fordern. Die glatten Bodenplatten des Eingangs weisen mir den Weg. Die Kugel am Ende meines weißen Stockes rollt gleichmäßig von links nach rechts vor mir her, links, rechts, links, rechts, links, rechts.

"Entschuldigen Sie", rufe ich auf's Geratewohl in das Stimmenwirrwarr, "ist noch ein Zweiertisch frei?"

"Nicht wirklich", sagt eine gequetschte Stimme, die gewiss einer Mutter gehört.

"Doch doch, dahinten", dröhnt ein rauher Männerbass, der neben der Sachinformation schweren Bierdunst zu mir trägt. "Ich helf Dir!"

ob der Ü-50er jeden duzt oder nur Blinde, frage ich mich. Immerhin zerrt er mich nicht zum freien Platz, sondern bietet mir seinen Arm an. "Ich hab Erfahrung mit Euch", sagt er und lacht.

Ich ahne schon, dass ich diesen Herren nicht so einfach loswerde. Er legt meine Hand auf die Stuhllehne. Ich setze mich.

"Na, wie hab ich das gemacht?", fragt er.

"Alles perfekt, danke", antworte ich.

Er setzt sich auch. Ich wusste es. Wird er mir jetzt von seiner erblindeten Mutter berichten oder von seinem Berufsalltag als Altenpfleger oder Sonderschullehrer, Erzieher für blinde Kinder vielleicht?

"Ich war mal im Dialog im Dunkeln", platzt es aus ihm heraus. "Ich find Euch voll faszinierend. Ich bin Jürgen!" Eine fleischige, durch die Sommerhitze feuchtgeschwitzte Hand greift nach meiner.

Jetzt sind wir wohl Kumpel, denke ich und sage: "Ich bin Jan, hallo Jürgen."

"Und schon immer blind?" Wenigstens ist er unverkrampft.

"Nein, sechs war ich, ein Unfall."

"Schlimm, schlimm. Naja, das Leben muss weiter gehen. Jürgen weiß bescheid, denke ich.

"Ja, man findet seinen Weg", sage ich und möchte von Blindenschrift, sprechenden Uhren und Kochkursen für Blinde reden.

"Ihr entwickelt ja auch einen sechsten Sinn", unterbricht mich mein Gegenüber.

Ich habe ja nicht einmal einen fünften Sinn, denke ich und sage es auch.

Er schweigt - wer hätte gedacht, dass er das kann? - verdutzt. "Ja, nein, ich meine, Ihr nutzt andere Sinne."

"Ja, das stimmt", antworte ich in der Hoffnung, auf sicheres und vertrautes Smalltalk-Terrain gelangt zu sein. "Wenn ich an einer Kreuzung bin, dann höre ich an den parallel anfahrenden Autos, dass ich grün habe."

"Schon klar. Du kannst bestimmt auch hören, wie ich aussehe", fragt Jürgen die für einen Sehenden nicht allzu ungewöhnliche Frage.

"Nein, und es interessiert mich auch nicht. Wie jemand aussieht, spielt für mein Leben keine Rolle."

"Das ist toll!", findet Jürgen.

Kann nicht mal die Bedienung kommen, denke ich.

"Dieser ganze oberflächliche Quatsch ist Euch egal"! Wären doch alle Menschen so!" Jürgen schwärmt. "Du siehst das Wesentliche. Sei froh, dass Du den ganzen Scheiß nicht angucken musst. Du siehst, welche Menschen gut sind", frohlockt er. Und ich bin mir sicher, dass er sich für gut hält.

Ich wünsche mir den guten Menschen herbei, mit dem ich hier verabredet bin.

Ich setze an, Jürgen auf den Boden der Tatsachen zurückzuholen. Aber da will er gar nicht hin. Er will nicht hören, dass blinde Menschen so unterschiedlich wie sehende sind, dass die einen wissen wollen, wie jemand aussieht, die anderen nicht, dass die einen musikalisch sind, die anderen nicht, dass die einen voll integriert, die anderen lieber unter sich sind, dass die einen oberflächlich und die anderen weltoffen sind. Jürgen holt lieber zum finalen Schlag aus:

"Ich bin mir sicher, Ihr könnt hellsehen!"

Jetzt bin ich verdutzt. Nach einer Pause bricht sich meine Verwirrung in einem kraftvollen Lachen bahn. Ich lache und lache, immer lauter.

"Nein, wirklich", versucht Jürgen zu begründen. Aber ich kann ihm nicht mehr zuhören. Ich zittere, bebe vor Lachen. Hellsehen. Was kommt noch? Mit Tieren sprechen? Gold scheißen?

"Hier ist ja eine tolle Stimmung", sagt die weiche, klare Stimme, die sich heut in Rosenduft hüllt. Die zarte Hand des guten Menschen, mit dem ich verabredet bin, streicht über meine Wange. Und ich schwöre mir, nächstes Mal nicht zu früh hier zu sein.

(Dieser Blog-beitrag ist fiktiv. Er ist mein Beitrag zum Themen-Abend "Esoterik" in der "Mathilde Hamburg", 7. April 2009.)

Donnerstag, 2. April 2009

Blind auf dem Bike

Wofür ich meinen Job liebe? Für seine vielen überraschenden, ungewöhnlichen und interessanten Begegnungen mit Menschen, denen ich privat wohl nie begegnet wäre. Und andersherum treffe ich Leute, die mit mir zum ersten Mal Kontakt zu einer blinden Person haben. So war es auch gestern beim Biker-Stammtisch Norderstedt. Was verschlug mich und drei Kolleginnen und Kollegen dorthin? Motorradfahren assoziiert der geneigte Blind-PR-Leser wohl nicht mit einem Blinden- und Sehbehindertenverein? Eben drum. Kaum ein Mensch ohne Augenlicht saß schon einmal auf einer knatternden, vibrierenden Maschine. Viele Betroffene wissen nicht einmal, wie sich Harley und BMW anfühlen, welche Kluft die Fahrer tragen. Daher hatten wir die Idee, anlässlich unseres 100jährigen Vereinsjubiläums diese Wissenslücke zu schließen. Mit der Biker-Union haben wir einen Partner gefunden, der für unsere Idee offen war. Und nun steigen am 6. Juni blinde und sehbehinderte Hamburger auf die Motorräder. Sie drehen mit den Bikern einige Runden und gewinnen neue Eindrücke. Und neue Eindrücke sammelte auch ich gestern in Wallis Eck Casino: kernige norddeutsche Männer - weniger Frauen - in Lederkluft, immer einen trockenen spruch auf den Lippen und, das ist das wichtigste, offen für neues. Ich freu mich auf den 6. Juni und meine erste Tour auf dem Motorrad.

Auch für Sie gibt es am 6. Juni beim fest der Sinne viel zu erleben: Testen Sie Ihre sinne im Dunkeln, entspannen Sie in unserem snoezelen-Raum, spielen Sie blind Ballspiele, oder fahren Sie erstmals auf einem Tandem. Für Livemusik und Verpflegung ist natürlich auch gesorgt. Also, den Termin schon einmal vormerken!

Mehr Infos beim BSVH.

Montag, 30. März 2009

Geist und Gesellschaft

Dass ich das Buch in gänze lesen würde, hätte ich nach den ersten Kapiteln nicht gedacht. Und normalerweise habe ich auch keine Skrupel. einen Roman, der nicht in Gang kommt, unbeendet der Blindenschrift-Bücherei zurückzusenden. Aber nun hieß der Autor des Glasperlenspiels Hermann Hesse. Und bisher hatte mich der Meister der romantisch-psychologischen Moderne nie enttäuscht. somit hielt ich durch. Und darüber bin ich sehr froh. Denn das Glasperlenspiel ist ein dichtes, kluges Werk über das verhältnis von Geist und Gesellschaft. Es proklamiert das Ideal der freien Wissenschaft, was in Zeiten von Leistungsdruck, Studiengebühren und einer ausschließlichen Ausrichtung der Studiengänge auf den Beruf topaktuell ist. Und Hesse entwirft eine Utopie des Austauschs zwischen den wissenschaftlichen disziplinen. Diesen Austausch wünscht man sich in Zeiten immer komplexerer globaler Problemlagen. Aber der Autor verarbeitet in seinem letzten großen Werk auch die Gefahren, die in einer Separierung der Wissenschaft vom Rest der Gesellschaft und vom Transzendentalen liegt. Und wenn man schließlich bedenkt, dass das Glasperlenspiel 1943 erschien, inmitten des zweiten Weltkriegs und des Holocausts, dann ist dieser etwas skurile und schwierige Roman ein grandioser Ausdruck von Hesses Humanismus. Hesse lohnt sich immer.

Mehr zum Thema Literatur bei Lovely Books.

Donnerstag, 26. März 2009

Ein besonderes Hotel

Urlaub. Abschalten. Energie Tanken. Gerade für blinde und sehbehinderte Menschen ist die Suche nach dem geeigneten Reiseziel wichtig. Der Alltag mit dem weißen Stock verlangt viel Konzentration. Schließlich muss ein eingeschränkter oder fehlender Sinn rund um die Uhr ersetzt werden. Da wollen viele Betroffene zumindest während der Ferien eine barrierefreie Umwelt. Der Blinden- und Sehbehindertenverein Hamburg (BSVH) betreibt in Timmendorfer Strand sein Aura-Hotel. Das moderne Haus liegt wenige hundert Meter vom Ostsee-Strand entfernt und bietet Hotel-Komfort plus kontrastreiche Zimmer- und Treppenhaus-Gestaltung, hilfsbereites und unaufdringliches Personal, Begleitung bei Ausflügen, eine Hörbibliothek und vieles mehr. Ein sehr sehenswertes Info-Video können Sie auf der Aura-Infoseite vom BSVH anschauen.

Sonntag, 22. März 2009

Um Filme zu lieben, braucht man sie nicht zu sehen

Die Gala zum siebten deutschen Hörfilmpreis war ein voller Erfolg. Meinen Bericht über die Verleihung können Sie im Blog von Lisa-Sprachreisen lesen. Vielen Dank an die Lisa-Twitterer für die Anfrage nach dem Artikel"

Mittwoch, 18. März 2009

Hörfilm-Gala: Die Promis kommen

Vom Frankfurter PR-Seminar geht es heute nach Berlin. In der Hauptstadt wird morgen der deutsche Hörfilmpreis verliehen. Mit dieser Auszeichnung würdigt der Deutsche Blinden- und Sehbehindertenverband alljährlich besonders gelungene Produktionen mit Audiodeskription und Personen, die sich für das Medium Hörfilm engagieren. Der Event gehört zu den öffentlichkeitswirksamsten Terminen des Blinden- und Sehbehindertenwesens in der Bundesrepublik. Mit soviel Prominenz wie bei der Gala im historischen Atrium der Deutschen Bank haben wir Blind-PR'ler nur sehr selten zu tun. Schirmherr war in den ersten sechs Preis-Jahren Mario Adorf. Ein neuer Schirmherr wird Donnerstag von Klaus Wowereit vorgestellt. Joy Denalane wird singen, Frauke Ludowig moderieren. Als prominente Gäste haben bisher ihr Kommen bestätigt: Anna Maria Mühe, Hannelore Hoger, Clemens Schick, Boris Aljinovic, Dominic Raacke, Valerie Niehaus, Jennifer Ulrich, Kostja Ullmann, Janine Reinhardt, Otto Sander, Jaecki Schwarz, Friede Springer, Regine Sixt, Patricia Riekel sowie Regina Ziegler.

Hörfilme sind ein Stück Integration: Sie ermöglichen es blinden und sehbehinderten Menschen, Filme und Serien unabhängig und eigenständig zu verfolgen. In den Dialogpausen werden Mimik, Gestik und andere rein visuelle Fakten und Handlungen eingesprochen. Audiodeskription funktioniert also wie ein Hörspiel. Im öffentlichrechtlichen TV gibt es regelmäßig Hörfilme. Allerdings ist dies, gemessen am Gesamtprogramm, immer noch die absolute Ausnahme. Auch auf DVD erscheinen einige Filme mit Audiodeskription.

Die Nominierungen für den siebten deutschen Hörfilmpreis:

  1. „Strajk - Die Heldin von Danzig“ Eingereicht von: Arte
  2. „TRIP TO ASIA ~ Die Suche nach dem Einklang“ Eingereicht von: BOOMTOWNSOUNDS GmbH & Co KG
  3. „Kirschblüten Hanami“ Eingereicht von: Bayerischer Rundfunk
  4. „Die Welle“ Eingereicht von: HIGHLIGHT COMMUNICATIONS
  5. „Shine a Light“ Eingereicht von: KINOWELT HOME ENTERTAINMENT
  6. „Die Katze“ Eingereicht von: Norddeutscher Rundfunk
  7. Tatort „Blinder Glaube“ Eingereicht von: Rundfunk Berlin-Brandenburg
  8. „BLINDSIGHT“ Eingereicht von: Tao Cinemathek GmbH
  9. „Engelchen flieg“ Eingereicht von: Westdeutscher Rundfunk
  10. „Der Letzte macht das Licht aus“ Eingereicht von: ZDF
  11. „Novemberkind“ Eingereicht von: Südwestrundfunk
  12. Frau Hela Michalski, Hörfilmbeauftragte des Blinden- und Sehbehindertenverein Schleswig-Holstein (BSVSH) Eingereicht von: BSVSH

Montag, 16. März 2009

Doch, sie stören

In Hamburg-Altona gibt es Streit. Der Bezirk möchte die Zahl der Aufstellschilder vor Geschäften reduzieren. Die Begründung: die Schilder versperren Personen mit Kinderwagen und blinden Menschen den Weg. In der vergangenen Woche rief mich ein Journalist an: "Ich kann mir das nicht vorstellen, dass die stören", sagte er mir. Doch, das tun sie. Insbesondere wenn sie nicht direkt vor dem Geschäft, sondern mitten auf dem Bürgersteig stehen. Wie oft schlage ich mit meinem weißen Stock gegen diese Hindernisse - wenn es gut läuft. Wenn es schlechter läuft, dann stehen sie so, dass nicht mein Stock gegen sie stößt, sondern mein Ellbogen oder Knie. "Aber man muss doch abwägen", gab der Medienkollege zu bedenken, "die Interessen der wenigen Blinden und das Informationsbedürfnis von zwei Millionen Hamburgern." Man kann sicher über den Informationsgehalt von vermeintlichen Sonderangeboten streiten. Und 3000 blinde und weit über 40.000 sehbehinderte Hamburger sind auch kein Pappenstiel. Und deren Interessen vertrete ich. Daher: Ich freue mich über jedes Schild, über jedes Hindernis, über jede Barriere, das oder die von Hamburgs Bürgersteigen verschwindet.

Mittwoch, 4. März 2009

Zynische Sozialpolitik: Mecklenburg-Vorpommern kürzt Blindengeld

Blindengeld bleibt ein politischer Dauerbrenner: In Niedersachsen stieg die Leistung leicht, der Thüringer Blinden- und Sehbehindertenverein kämpft für eine Erhöhung im Schlusslichtland, von europäischer Seite gibt es Bedenken, ob die Kleinstaaterei beim Nachteilsausgleich rechtens ist. Und in Mecklenburg-Vorpommern hat der Landtag heute eine dramatische Leistungskürzung um 20 prozent beschlossen. Um den Haushalt zu sanieren, wird im Nordosten im sozialen Bereich gespart. Dabei hatte die vermeintlich kleine Gruppe der blinden und sehbehinderten Menschen enorme Schlagkraft bewiesen: Demonstrationen, Mahnwachen, Unterschriften-Aktionen und Gespräche mit Politikerinnen und politikern wurden auf die Beine gestellt. Leider konnte die Kürzung nicht verhindert werden. Immerhin aber konnten die 40prozentigen Streichungspläne des Sozialministeriums reduziert werden. Dass sich SPD und CDU die geringere Kürzung nun auf ihre sozialpolitischen Fahnen schreiben, ist allerdings mehr als zynisch. DBSV-Inform schreibt zum heutigen Landtagsbeschluss:

"acht Monate lang hat der Blinden- und Sehbehinderten-Verein Mecklenburg-Vorpommern (BSVMV) intensiv gegen die geplante Kürzung des Landesblindengeldes gekämpft. Heute fiel die Entscheidung: Der Schweriner Landtag verabschiedete in zweiter Lesung die Kürzung von 546,10 Euro auf 430 Euro im Monat. Dabei stimmten 36 Abgeordnete für und 28 gegen das neue Landesblindengeldgesetz, das zum 1. Mai 2009 in Kraft treten wird.

Nachdem sich der Koalitionsausschuss Ende Januar darauf verständigt hatte, die geplante Kürzung von 40 auf 20 Prozent zu reduzieren, war das Ergebnis der heutigen Landtagssitzung abzusehen. Trotzdem hatte der BSVMV noch einmal zum Protest aufgerufen. Rund 100 blinde und sehbehinderte Menschen versammelten sich heute früh zu einer Mahnwache vor dem Schweriner Schloss, um die Abgeordneten daran zu erinnern, dass sie bei der Abstimmung allein ihrem Gewissen verpflichtet sind.

Betrachtet man allein die Zahlen, sieht das Ergebnis des Blindengeldkampfes in Mecklenburg-Vorpommern wie ein Kompromiss aus. Die Enttäuschung bei den Vertretern der Blinden- und Sehbehindertenselbsthilfe ist trotzdem groß. "Am Ende ging es der Landesregierung nur noch darum, unbeschadet aus dem Blindengeldkampf herauszukommen. Mit großer Enttäuschung müssen wir erkennen, dass es sich um eine rein politische Entscheidung handelt, die nicht mit nachvollziehbaren Gründen belegbar ist", erklärt Gudrun Buse, Landesvorsitzende des BSVMV. Und auch Renate Reymann, Präsidentin des DBSV, beklagt: "Es entsteht der bittere Beigeschmack, dass wir nur Statisten sind im politischen Theaterstück "Wie es uns gefällt". Wir werden uns weiter gegen jede Politik der sozialen Kälte zur Wehr setzen und auch nach neuen Wegen suchen, um den Nachteilsausgleich für blinde und sehbehinderte Menschen abzusichern.""

Sonntag, 1. März 2009

Menschen bewegen

Fotos, Audiomaterial und bewegte Bilder sind immer mehr Teil professioneller Presse- und Öffentlichkeitsarbeit. Sie machen Infos lebendig, zeigen den Menschen hinter der Nachricht. Der Blinden- und Sehbehindertenverein Hamburg bietet ein umfangreiches Angebot, für alle Menschen, deren Sehen nachlässt: Sprechende und vergrö´ßernde Hilfsmittel, Beratung zu Alltags- und Rechtsfragen, Angebote speziell für Senioren, für Diabetiker, Führhundhalter, einen Arbeitskreis Umwelt und Verkehr, Freizeit- und Kultur-Aktivitäten und vieles Mehr. Es sind Menschen, die dieses Angebot mit Leben füllen, die es ermöglichen. Diese Menschen können Betroffene, Angehörige und Interessierte jetzt in einem Dokumentarfilm kennenlernen. Über Feedback zu unserem Film - als Kommentar oder per E-Mail - freue ich mich.

Mittwoch, 25. Februar 2009

Wellen der Hoffnungslosigkeit

Während sich weltweit Pärchen bei Candlelight und romantischem Essen mehr oder minder verliebt in die Augen sahen, haben die bezaubernde Anna und ich am Valentinstag lieber "Breaking The Waves" geguckt. Der Film des Dänen Lars von Trier lässt mich seitdem nicht mehr los. Immer wieder drängen sich Sequenzen und Stimmungen des Streifens in meine Gedanken und Träume - und immer sind sie düster. Der Film bedrückte mich, beengte mich, mir wurde beim Sehen schlecht, ich wollte ausmachen. Und doch haben wir weitergeschaut, gnadenlos, erschütternd. Eine naive Frau liebt ihren Mann. Sie liebt ihn gegen alle Widerstände ihrer christlich-fundamentalistischen Dorfgemeinde. Sie liebt ihn, als er durch einen Unfall vom Hals an gelähmt ist. Sie liebt ihn, als er von ihr verlangt, mit fremden Männern zu schlafen. Sie erniedrigt sich aus Liebe und bleibt doch die Erhabene, weil sie liebt. Aber man ahnt schon früh, dass ihre bedingungslose Liebe scheitern wird. Sie stirbt, von brutalen Männern getötet, von der Kirche verstoßen, von der Mutter geächtet. Ist es die Gnadenlosigkeit, die brutalität des Films, die mich so erschüttert? Ist es die Verlustangst der Protagonistin? Ist es die Enge von familie, Dorf und Doppelmoral? Ja, vielleicht. Darüber hinaus ist es aber auch ein Unbehagen gegen den Film an sich, gegen seine Hoffnungslosigkeit. Eine Ahnung von Hoffnung gibt es nur in der leidenden Hingabe und im Tod, wenn am Ende von "Breaking the Waves" die Glocken wie aus dem Nichts überm Meer erklingen und für die Heldin läuten.

"Ich brauch doch Hoffnung", rief vorgestern Marco, eine Figur aus "Vorstellungen" aus, einem stück im Hamburger Schauspielhaus. Marco ist Regisseur. Er will Shakespeares Versepos "Venus und Adonis" auf die Bühne bringen. Er schreibt den tragischen Stoff um, eben weil er die Hoffnung braucht - privat wie als Künstler.

Und genau das habe ich auch während der über zweieinhalb "Breaking The Waves"-Stunden immer wieder gedacht: "Wo bleibt denn hier die Hoffnung, der gute Mensch?" Wenn Lars von Trier sagen wollte, dass es das gute fast nicht mehr gibt, dass es nur noch als Nadel in einem Heuhaufen des Bösen zu finden ist, dann ist ihm das sehr eindrücklich gelungen. Mut machte der Film aber nicht. Die Wellen brechen über dem Zuschauer zusammen, und der bleibt ertrunken in Hoffnungslosigkeit zurück.

Sonntag, 22. Februar 2009

"Ob der im Dunkeln immer so ungeschickt ist?"

Was für ein wochenende. Über fünfzehn Stunden im Zug. Wenig Schlaf. Anspannung vor der Theater-Aufführung, Unsicherheiten während des Stücks. Zweifel, ob sich der Aufwand lohnt. Langanhaltender Applaus. Gestern haben wir "Blindfische und Sehfische" in Leipheim / Bayern gespielt. Ich könnte jetzt über den unbekannten Raum, seine acht Holzsäulen, die schallschluckende Akustik, den mit 120 Zuschauern mehr als ausverkauften Zehnstadel schreiben. Oder über die Nervosität im Team. Oder über den tollen, offenen Umgang zwischen blinden Laien und sehenden Profi-Schauspielern. Das tue ich aber nicht, sondern verlinke lieber auf die Kritik in der Augsburger Allgemeinen.

Donnerstag, 19. Februar 2009

In die Grube

In Mainz ist eine blinde Frau in einen offenen, schlecht gesicherten Kabelschacht gestürzt. Glücklicherweise hat sie sich nur leicht verletzt. Dennoch: es hätte auch anders kommen können. Zurecht verlangt der rheinland-pfälzische Behindertenbeauftragte Ottmar Miles-Paul eine bessere Absicherung von Baustellen. Immer wieder höre ich von Fallen, die besonders blinde und stark sehbehinderte Menschen bedrohen. Bisher ist mir noch nichts derartiges passiert. Meist sind die Baustellen auf meinen Wegen mit Metallabsperrungen gesichert. Wenn Bauarbeiter gerade am Werk waren, haben sie mir bisher in der Regel Hilfe angeboten und mich rechtzeitig auf das Loch im Boden aufmerksam gemacht. Ist eine Baustelle aber nur mit einem flatternden Band abgesperrt, dann droht Gefahr. Mit dem weißen Blindenstock fühlt man es nicht oder zu spät und schon ist man mit einem Fuß in der Grube. Bleibt zu hoffen, dass Ereignisse wie das in Mainz die Öffentlichkeit für dieses Thema sensibilisieren.

Sonntag, 15. Februar 2009

Blogs und Bilder

Das WWW ist wahrlich ein weites Web. Inhalte über Inhalte. Wo wir beim Stöbern hängen bleiben, ist oft zufällig und abhängig von unseren persönlichen Vorlieben. Vielleicht spricht uns ein Layout besonders an, das Bild eines Bloggers erscheint uns sympathisch. Aber wie ist es, wenn man ohne Augenlicht surft? Wenn eine synthetische Sprachausgabe die Inhalte der Websites vorliest und Punkte auf der Braillezeile unter den Fingerkuppen hochschnellen?

Schöne Bilder können mich nicht in ihren Bann ziehen. Im Gegenteil: sie schrecken mich meist eher ab. Die Onlineangebote der öffentlichrechtlichen Rundfunkstationen haben in der Regel Bildbeschreibungen im Alternativtext, so dass ich von meiner Sprachausgabe zumindest knappe Beschreibungen vorgelesen bekomme. Viele Online-Angebote von Zeitungen - so z.B. Abendblatt.de - bieten ebenfalls Alternativ-Texte. Kaum ein Blogger nutzt diese Möglichkeit. In der Regel kann ich mit Schnappschüssen nichts anfangen. Wenn ich sie überhaupt bemerke, dann als kryptische Zeichenfolgen ohne Sinn und Verstand. Statt des witzigen Bildes lese ich dann z.B. "flickr-photo { border: none; } .flickr-yourcomment { } .flickr-frame { text-align: center; padding: 3px; } .flickr-caption { font-size: 0.8em; margin-top: 0px; }". Ein kurzer ergänzender Satz wie "Gunnar isst Schnitzel" oder "Karla tanzt Tango" würde schon reichen, um Surfern mit einer Sehbehinderung den Weballtag zu erleichtern und Seiten für sie übersichtlicher zu gestalten. Ein außergewöhnliches Beispiel für eine tolle Beschreibung findet sich im "Unendliche Weiten"-Beitrag im J.A.-Blog.

Was lässt mich bei einem Blog stoppen, wenn nicht die Bilder? Es sind tolle Überschriften, die Lust auf Mehr machen. Manchmal ist es ein Name, zu dem ich positive Assoziationen habe - völlig willkürlich. Und dann ist es im zweiten Schritt vor allem die Sprache. Schreibt der Autor spannend, humorvoll, interessant? Benutzt er kluge oder originelle Metaphern? Schreibt er ausführlich, wenn es sinnvoll, und pointiert, wenn es möglich ist? Und schließlich - das gilt letztlich für sehende wie blinde Surfer gleichermaßen: Sind die Themen ansprechend, haben die Beiträge Informations- und Unterhaltungsgehalt?

Mehr Infos zu barrierefreier Webgestaltung finden Sie auf den seiten des BIK-Projektes

Und warum lesen Sie Blind-PR? Die virtuosen Bilder sind es wohl nicht.

Dienstag, 10. Februar 2009

Soviel Glück

Es stand in meinem Regal, ganz oben, unter der Decke, Staub auf dem Deckelrand und auf den von Punkten dicken Seiten. Der Zufall - die Suche nach einer vorlesbaren Kurzgeschichte - ließ es mich herausgreifen. Vor zehn Jahren hatte ich das Buch gekauft, auf eine Anregung meines Oberstufenlehrers hin. Interessant, politisch, ostdeutsch, so fand ich es damals. Nach der Lektüre einiger Texte hatte ich den Band weggestellt und nicht wieder angerührt. Und was finde ich da heute? Doppelbödige, verstörende Literatur. Sie kommt in schlichter Sprache, beinahe nachrichtengleich daher. Nach der Hälfte merkt der Leser, dass es hier Geschichte - historische wie persönliche - in der Geschichte gibt. Und am Ende bleibt man nachdenklich zurück, voller Fragen nach Gerechtigkeit, Lebenssinn und Selbstbestimmung. So ist es zum Beispiel, wenn Käthe am Ende von "Jelängerjelieber Vergißnichtmein" - nach einem zerrütteten Elternhaus, nach unglücklicher eigener Ehe, nach dem Tod ihres Mannes und nach dem Verlust ihrer lebenslangen Affäre - sagt: "Soviel Glück, wie ich hatte, kann man nicht zweimal in seinem Leben haben." Christoph Heins kluge Geschichten sind keine leichte, aber eine lohnende Kost. Und sie zeigen mir, dass manche Bücher einige Jahre reifen müssen, bevor sie ihren vollen Geschmack entfalten können.

Wenn Sie, geneigter Leser, geneigte Leserin, mit einem Buch ähnliche Erfahrungen gemacht haben oder Sie Ihre Meinung zu Christoph Hein kundtun möchten, dann hinterlassen Sie gern einen Kommentar.

Freitag, 6. Februar 2009

Dreierlei Rauschen

Juist im Winter: Leere, Ruhe, Weite, Frische! Die bezaubernde Anna und ich waren am vergangenen Wochenende auf der ostfriesischen Insel. Was für ein Kontrast zu Frankfurt am Main. Dort hatte ich zuvor ein PR-Seminar besucht. Auto- und Straßenbahnlärm, Hochhäuser und Abgase wurden durch das Rauschen des Meeres, Dünenwanderwege und eine autofreie Insel abgelöst. Johanna hatte Recht, als sie in ihrem Blog schrieb: "Juist im Januar - einsamer geht es kaum! Wenn sogar die Einheimischen in Teilen die Insel verlassen, bleiben endlose unberührte Strände und ein einzigartiges Gefühl der Ruhe. Muss man machen: Alleine, singend, im Regen am Strand tanzen!"

Schon die Anreise war ein Spaß: mit dem Miniflieger von Norddeich auf die Insel. Acht Leute fanden Platz, eng an eng, direkt über meinem Kopf war das Dach. Gepäck in den Kofferraum, türen zu, Motoren an. Ich fühlte mich eher wie in einem Bus - einem Bus mit zwei sehr lauten Motoren. Abheben, das Schaukeln im Wind, das Kribbeln im Bauch beim Landen, herrlich. Noch herrlicher war der Bus-Service vom Flughafen Juist in die Friesenstraße im Ortskern. Kutschenbus ist das Stichwort. Gemütlich trabten wir die vier Kilometer zu unserer Pension. Und danach zwei Tage Spazieren, Essen, Schlafen - Energie Tanken.

Die Juister Kinder hatten zwei Wochen Winterferien. Viele Einheimische waren daher im Urlaub. Die meisten Restaurants und Geschäfte waren geschlossen. Wir trafen kaum einen Menschen auf den Straßen, Wanderwegen und am Strand. Die Sonne schien, die Luft zog salzhaltig und rein vom Nordmeer kommend in unsere Lungen. Es lag sogar ein bisschen Schnee, eine Seltenheit auf der Insel.

Am Sonntag stürmte es. Wie wundervoll war es, an diesem Tag am Strand zu sein. Es zog und drückte an der Kleidung. Dreierlei Rauschen hörte ich: das massive, dumpfe Dröhnen der Nordseewellen, das pausenlose, kräftige Wehen des Windes und schließlich das feine Zischen des Sandes, der um unsere Beine stob. Das sind Momente, die sind einfach und gerade deswegen so beeindruckend. Sie werden mir gewiss im Gedächtnis bleiben.

Donnerstag, 5. Februar 2009

Auto kracht ins Louis-Braille-Center

Sachen gibt's. Am vergangenen Wochenende ist ein Auto in das Louis-braille-Center des BSVH gekracht. Und gekracht hat es gewiss. Steinsockel, Glasfassade, ein komplettes Büro unserer Hilfsmittelberaterinnen und eine Innenwand wurden zerstört. Gut, dass keine Mitarbeiter im Haus waren. Der Schreibtischstuhl war durch den Aufprall fest in einen Schrank gerammt. Die blindengerechten Sonderausstattungen der PC's sind teilweise nur noch verstaubter Schrott. Der Fahrer oder die Fahrerin hatte sogar noch die nerven, wieder auszuparken. Das Auto wurde gefunden. Die Polizei ermittelt. Unsere Hilfsmittelausstellung mussten wir vorerst schließen. Eine provisorische Bürolösung sollte aber bis zum 16. Februar stehen, so dass wir ab diesem Datum ratsuchende sehbehinderte und blinde Menschen wieder informieren können: über sprechende Uhren, Farberkennungsgeräte, Telefone mit großbeschrifteten Tasten u.v.m. Die Vernisage von Armelle Mag, die am 11. Februar sein sollte, muss leider verschoben werden. Für uns Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter heißt es, die nächsten Monate auf einer Baustelle zu arbeiten. Jou, wir schaffen das!

Sonntag, 1. Februar 2009

Ketten, die klingen

Wie nehme ich als blinder Mensch Schmuck wahr? Welche Ketten, Ringe und Armbänder mag ich An anderen? Womit ziere ich mich selbst? In einem Gastbeitrag für Jochen Schepps Schmuck-Blog habe ich darauf geantwortet. Jochen, vielen Dank für die Veröffentlichung! Sie, liebe Leserinnen und Leser, finden den Artikel hier.

Freitag, 30. Januar 2009

Schweigsamer Mitfahrer

Mit meinem Schwerbehindertenausweis kann ich im Zug eine Begleitperson mitnehmen. Daher inseriere ich gern mal bei Mitfahrgelegenheit.de und suche mir dort Mitfahrer. Im Normalfall hatten die Leute vorher noch keinen Kontakt mit blinden Menschen. Daher ist es immer spannend, wie sie sich verhalten. Es schwankt zwischen großer Freundlichkeit und Offenheit bei den meisten und schüchterne Unsicherheit bei den Anderen. Die Beschreibung "Schüchterne Unsicherheit" ist für meinen heutigen Reisebegleiter auf der Strecke Frankfurt-Hamburg noch arg untertrieben. Kein Wort, keine Frage, nichts. Das ist schon extrem ungewöhnlich. Das nehme ich zum Anlass, einmal darüber nachzudenken, was mir wichtig erscheint im Umgang zwischen Blind und Sehend.

Unsicherheit ist normal. Fragen sind es auch: "wie orientierst Du Dich?" "Wodurch bist Du erblindet?" "Wie träumst Du?" "Wünschst Du Dir, wieder sehen zu können?" "Kannst Du am Computer arbeiten?" und viele mehr. Ich beantworte diese Fragen gern. "Du musst wahrscheinlich auf jeder Zugfahrt dieselben Dinge erzählen", hat mal eine besonders interessierte Mitfahrerin gesagt.

Es stimmt, dass sich einige Fragen häufiger wiederholen. Aber was soll's. Immerhin kenne ich mich in dem Themengebiet gut aus. Und - diese Erfahrung machte ich in der Uni ebenso wie im Beruf - nur wenn die Unsicherheiten und das Unwissen aufgebrochen werden, kann Normalität im positiven Wortsinn überhaupt entstehen. Als ich während meiner Unizeit in Referatsgruppen auftauchte, machte sich zunächst Ratlosigkeit breit. In Schweigen oder in zaghaften, auf political Correctness bedachten Bemerkungen hörte ich das "Wie will der denn bei uns mitarbeiten" heraus. Die Spannung wurde immer geringer, je mehr ich erzählte, dass mein PC sprechen könne, dass ich mir Texte für das Referat einscannen und synthetisch vorlesen oder auf Kassette sprechen lassen könne. Und dann kamen auch Fragen, mutiger und neugieriger, nach meinem privaten Umgang mit der Behinderung. Und danach? Danach waren wir einfach nur eine Referatsgruppe mit ganz unterschiedlichen Leuten: nervösen und coolen, hässlichen Entlein und Fotomodels, Besserwissern und Nachdenklichen, Sehenden und Blinden.

Daher mein Plädoyer - vielleicht etwas pathetisch, aber was soll's: Fragen Sie, sprechen Sie mit behinderten Nachbarn, Kollegen, Zugpassagieren. Wenn die Betroffenen gerade keine Lust auf Fragen-Beantworten haben, dann sagen diese Ihnen das schon. Wie bei allem gilt im Umgang zwischen blinden und sehenden Menschen - und vielleicht gerade da -, dass wir nur im Dialog Gemeinsamkeiten entdecken und unsere Ängste verlieren können. Amen.

Montag, 26. Januar 2009

Blind im Medien-Job

Blinde Menschen in Medien-Berufen. Zu diesem Thema hat mich in der vergangenen Woche eine Journalistik-Studentin der Uni Hamburg interviewt. Für eine Recherche-Übung porträtiert Laura Schneider einen blinden Studenten der Medienwissenschaft. Als PR'ler und als Medien-Konsument wünsch ich mir, dass Journalisten immer soviel Freiheit und Zeit für die Artikel-Recherche hätten wie der Berufsnachwuchs an den Unis. Laura Schneider war perfekt auf das sehr spezielle Thema vorbereitet, hatte diverse Vorabmails an die Experten geschickt und war sehr interessiert. Auf mich war sie durch meine Mitarbeit im Leitungsteam der Fachgruppe Medien des Deutschen Vereins der Blinden und Sehbehinderten in Studium und Beruf (DVBS) aufmerksam geworden.

Einige von Schneiders Fragen und meine Antworten dazu:

1. Wieviele blinde Menschen studieren bzw. arbeiten in den Medien in Deutschland?

 

Hierzu gibt es kein belastbares Zahlenmaterial. In der Fachgruppe Medien des DVBS sind rund 100 blinde und sehbehinderte Medienschaffende zusammengeschlossen. Das Spektrum reicht von wissenschaftlichen Dokumentaren, über Rundfunk-Journalisten bis zu PR-Profis. Einige arbeiten hauptberuflich in diesen Bereichen, andere machen z. b. eine ehrenamtliche Radiosendung im Offenen Kanal oder im Internet. Insgesamt dürfte die Zahl aber gering sein. Das liegt daran, dass die meisten blinden Menschen erst im Alter ihr Augenlicht verloren haben und die Chancen sehbehinderter Menschen in den Medien - wie in allen Berufszweigen - sehr schlecht sind. Schätzungen zufolge sind überhaupt nur knapp 30 Prozent der Blinden im berufsfähigen Alter in einem regulären Arbeitsverhältnis.

2. Bieten alle Universitäten Deutschlands, wo man "etwas mit Medien" studieren kann, das Studium auch für Blinde an?

Wenn man es als Blinder geschafft hat, an einer Förderschule oder integriert an einer Regelschule sein Abitur zu machen, dann kann man in Deutschland formal alles studieren. Härtefall-Regelungen setzen dabei sogar den Numerus Clausus außer Kraft. Speziell für Blinde wird kein studiengang angeboten. Überhaupt ist die Begleitung der behinderten Studenten von Uni zu Uni sehr unterschiedlich. An der einen Hochschule gibt es ein spezielles Förderzentrum, an anderen Bibliotheksräume mit blindengerechten PC's, an anderen Unis nichts dergleichen. In der Praxis gibt es aber Studiengänge, die besser geeignet sind als andere. So ist sicherlich ein Studium mit dem Schwerpunkt visuelle Medien eher suboptimal, während viele blinde Menschen gerade beim Radio-Journalismus ihre sehenden Kommilitonen in die Tasche stecken könnten.

 

3. Gibt es häufig Beschwerden von Blinden bezüglich der Schwierigkeit, an Bildung oder Arbeit zu gelangen? Wie schätzen Sie die vom Staat zur Verfügung gestellten Möglichkeiten ein?

 

Immer wieder gibt es Probleme. Fachliteratur gibt es nicht in Brailleschrift. Wissenschaftliche Texte müssen aufwändig eingescannt oder aufgelesen werden. Wenn sehbehinderte Studies dann an einen nichtkooperativen oder planlosen Professor geraten, haben sie einen für die Seminarstunde relevanten Text nicht rechtzeitig lesen können. Oder das ergänzende Folienmaterial wird nicht zur nachträglichen Bearbeitung freigegeben. Das sind aber Ausnahmen. Von den rechtlichen Rahmen-Bedingungen und vom Alltag an den meisten Unis her kann man als blinder Mensch in Deutschland erfolgreich studieren. Die Probleme beginnen meist erst bei der Jobsuche und im Berufsleben. Infolge der Hartz-Reformen wurde die Arbeitsplatzvermittlung auch für behinderte Menschen weitgehend regionalisiert. Überforderte Agentur-Mitarbeiter sollen plötzlich blinde Akademiker in einen Medienjob bringen und scheitern dabei immer wieder. Hier muss dringend eine bundesweite, zentrale und kompetente Jobvermittlung für behinderte Studierte her. Vorurteile, Unwissenheit und Ängste bei vielen Arbeitgebern machen es uns enorm schwer, überhaupt zu einem Bewerbungsgespräch eingeladen zu werden. Dabei gibt es die Möglichkeit, bis zu 70% der Lohnkosten vom Staat tragen zu lassen. Hilfsmittel-Ausstattungen - wie Braillezeilen und sprechende PC's - werden ebenfalls von der Arbeitsagentur übernommen. Problematischer ist da schon, dass in vielen Unternehmen regelmäßig neue Software installiert wird, neue Datenbanken erstellt werden usw. Und das häufig, ohne zu überprüfen, ob die blindenspezifischen Hilfsmittel damit funktionieren.

4. Kennen Sie bestimmte Arbeitgeber im Medienbereich, die ihre betrieblichen Strukturen so anpassen, dass blinde Menschen beschäftigt werden können?

Das Vorzeigeunternehmen schlechthin gibt es nicht. Was man sicher sagen kann, ist, dass es eher noch die öffentlichrechtlichen Anstalten sind, die sich an die Behindertenquote von fünf prozent halten. Ich selbst kenne wissenschaftliche Dokumentare, die in Rundfunkarchiven arbeiten oder blinde Nachrichtensprecher. Auch in der schreibenden Zunft gibt es den einen oder anderen blinden Journalisten. Ich kann nur jedem Unternehmer empfehlen, sich an einen Blinden- und Sehbehindertenverein wie dem BSVH zu wenden, wenn Fragen rund um die Integration von Mitarbeitern auftauchen.

5. Wo sehen sie Vor- bzw. Nachteile von blinden Menschen im Medienbereich (Studium und Beruf)?

Die Nachteile liegen vor allem im alltäglichen Umgang, in unausgesprochenen Vorurteilen und Berührungsängsten auf beiden Seiten. Das ist kein Spezifikum der Medienbranche, sondern ein grundsätzliches gesellschaftliches Problem. Die Nachteilsausgleiche, die blinde Menschen an Unis eingeräumt werden (verlängerte Abgabefristen für Abschlussarbeiten, mehr Zeit für Klausuren usw.) sind keine Vorteile, sondern nötige Nachteilsausgleiche. Journalistische Arbeit bedeutet Zuhören, Verstehen, Nachfragen. Viele blinde Menschen sind Profis darin, Infos und Zwischentöne aus dem gesprochenen Wort herauszufiltern. Sie sind gewiss ebenbürtige Journalisten. Und - wie gesagt - Radio ist das Leitmedium für viele blinde Menschen. Nicht selten sind Amateur-Shows blinder Journalisten mit einer höheren Professionalität produziert als manch eine Massenware der sehenden Radioprofis. Da stimmt oft jeder Anschluss, Musik und gesprochenes Wort harmonieren, Jingles werden rhythmisch perfekt eingesetzt. Leider sind das Fähigkeiten, die immer weniger in den hochcomputerisierten Radiostudios benötigt werden.

Freitag, 23. Januar 2009

Kurze Vergnügen

Twitter ist inzwischen überall. Das Gezwitscher ist mainstream: die Tagesschau berichtet, die Grünen schicken gerade Updates von ihrem Parteitag in Dortmund, Spiegel-Online verbreitet seine Nachrichten über den Micro-Blogging-Dienst, NDR's N-Joy kommuniziert mit den Hörern u.v.m. Herzstück ist und bleibt aber der Mensch hinter den Kurznachrichten, die sich Tweets nennen, seine Interessen, Infos und sein Humor oder Wortwitz. Gerade letzterer stand am gestrigen Abend im Mittelpunkt der Twitterlesung in der Hamburger Botschaft im Schanzenviertel.

Das Twitkrit-Team, das in seinem Blog regelmäßig bemerkenswerte Twitterer rezensiert, las Gefühlsausbrüche, Gedanken über Politik, büroalltag und das Leben, jeweils geballt in maximal 140 Zeichen. Beispiele: "Wenn die deutschen Autohersteller ans Ende ihrer Fließbänder Schrottpressen montieren, wären sie dank Abwrackprämien ihre Absatzsorgen los." "Ich teile jetzt erstmal meine Wohnung in Gegenstands-Aufenthaltsorts-Quadranten ein." "Sitze auf der Parkbank. Mühsam nähert sich das Eichhörnchen." usw. Pointiert und klug, stumpf und zynisch, alles gab's. Eine tolle Idee, so eine Twitterlesung. An der Dynamik der Performance könnte vielleicht noch gefeilt werden, aber sonst hoffe ich, dass bald wieder in der Hansestadt live on Stage gezwitschert wird.

Den einzigen wirklichen Wermutstropfen gab es beim Offlinetweet-Wettbewerb-Contest. Auf Kärtchen durften sich Twitterer und Nichttwitterer spontan an der 140er-Form versuchen. Die bezaubernde Liebste des Blind-PR'lers schaffte es zurecht unter die Top 4 - "in dem Moment, in dem ich mein Herzblut spenden wollte, war niemand da, der es brauchte" -, kam ins Stechen um Platz Eins und verlor knapp im Applaus-Votum gegen einen Stuhlgang-Tweet - man kann nicht alles haben.

Meine Twitter-Updates finden Sie übrigens hier.

Montag, 19. Januar 2009

Weimar begreifen

Das Internet vergisst wirklich nicht - und das hat auch seine schönen Seiten. Zuvällig stolperte ich jüngst über einen Text von mir, den ich vor über drei Jahren für die sZ-Beilage Jetzt.de geschrieben hatte. Er berichtet von einer schönen Erinnerung und schafft es somit auch in dieses Blog:

Weimar begreifen

www.jetzt.de, 17.10.2005

Ein Weimar-Wochenende aus der Sicht eines Blinden: Heiko Kunert, Gewinner des Anna-Amalia-Schreibwettbewerbs, erlebt die spannungsreiche Goethe-Stadt mit Händen, Ohren und Nase.

Die Herzogin-Anna-Amalia-Bibliothek in Weimar klingt groß. In ihr ist es warm. Sie riecht wie ein Neubau - wie ein Neubau mit staubigen Büchern. Und das ist sie ja auch: Nachdem das Renaissance-Gebäude im September 2004 durch ein Feuer verwüstet wurde, dem Tausende wertvoller Bücher zum Opfer fielen, wird es zurzeit restauriert.

"Allianz-Kulturstiftung" und "Süddeutsche Zeitung" - die Initiatoren des Schreibwettbewerbs - haben hierher eingeladen. Wir Bestplatzierten tragen unsere Geschichten vor. Sie handeln vom realen Buch aus Papier, von Büchereien als Orten menschlicher Begegnung. Wie konnten diese Texte einen Onlinewettbewerb gewinnen? Der Schriftsteller Tobias Hülswitt überreicht die Preise: Ipods. Wie passen diese an einen Ort, in dem Mozart-Handschriften archiviert sind?

Ruhe und Gelehrsamkeit in der Bibliothek prallen heute auf den Zwiebelmarkt. 350.000 Besucher werden an diesem Wochenende in Weimars Altstadt feiern. Deutschsprachige Country-Kracher der 80er Jahre werden auf einer Festbühne lustlos, aber laut intoniert. Volksfeste sind halt so, aber zu Goethe und Klassik wollen sie nicht passen.

Wir - Jury und Preisträger - flüchten in den Park des Schlosses Belvedere. Hier riecht es nicht nach Bratwurst, Zwiebelkuchen und gebrannten Mandeln. Hier riecht es nach den letzten Blüten des Jahres, nach Herbstsonne auf kühler Erde. Im Schlosspark erklingen weder Truckstop, noch Schunkeljazz. Hier zwitschern Vögel, Violinentöne schweben aus dem "Musikgymnasium Schloss Belvedere". Hier wird nicht Nippes angepriesen, hier plaudert Helmut Seemann - Präsident der Stiftung Weimarer Klassik und Kunstsammlungen - über die Marotten Herzog Carl Augusts und die botanischen Forschungen Goethes, als sei er ein Zeitzeuge. Mir ist klar: Wo, wenn nicht hier, sollten die Ideen der Klassik entstanden sein? Wo, wenn nicht hier, sollten Genie und Macht, Kunst und Politik eine harmonische Einheit eingegangen sein? Wo, wenn nicht in dieser Parkanlage und im Schloss Belvedere?

Heute repräsentieren nicht mehr Schlösser die Macht, sondern Rathäuser. Das Rathaus von Jena, in das wir am Abend fahren, riecht wie eine Aula, die Stühle sind so bequem wie in der Schule. Es gibt barocke Musik. Und schon ist sie wieder da, nach den ersten Cembalo-Takten: die Vergangenheit: Ich denke an Grimmelshausen, Gottesfurcht und 30jährigen Krieg; nicht an meinen ersten Platz im Schreibwettbewerb und nicht an das verheerende Erdbeben in Pakistan.

Auch im Goethehaus, in dem der Faust-Schreiber knapp 50 Lebensjahre verbrachte, scheint es keine Gegenwart zu geben, obwohl Kopfhörer und ein Film Hintergründe liefern und "die Wahlverwandtschaften" im Souvenirshop auf DVD verkauft werden. In den schlichten und engen Kammern beeindrucken historische Athene-Büsten, der verzierte Steinofen, der Schreibtisch des Meisters: Ich erhalte die Erlaubnis, die Ausstellungsstücke anfassen zu dürfen, ein sinnliches Privileg blinder Besucher. Ich begreife im Goethehaus Geschichte.

In meinem Weimar schwingt der Geist der Klassik neben dem Geist einer ganz gewöhnlichen ostdeutschen Kleinstadt. In ihm erahne ich, zu welch Höhenflügen der menschliche Geist fähig ist. Mein Weimar duftet nach endlosen Bücherreihen und riecht nach Massentourismus. Es umspielt mich mit alten Wahrheiten und neuen Fragen. Mein Weimar klingt nach Goethe-Gedichten aus weißen Kopfhörern.

Gefunden unter http://www.allianz-kulturstiftung.de/presse/archiv_presseinformationen/herzogin_anna_amalia_bibliothek/weimar_beg reifen/weimar_begreifen.html