Blinden und sehbehinderten Menschen wird häufig wenig zugetraut. Nicht aus Böswilligkeit, sondern meist aus Unwissenheit. Das TV-Wissensmagazin Galileo hat mich zwei Tage mit der Kamera begleitet. Daraus wurde ein interessanter und schöner Bericht, den ich guten Gewissens empfehlen kann. Den vollständigen Beitrag finden Sie im Prosieben-Video-Podcast.
Mittwoch, 22. Juli 2009
Dienstag, 21. Juli 2009
Gastbeitrag: Alltag mit blinden Eltern
Wie ist es, als sehendes Kind bei blinden Eltern aufzuwachsen? In einem Gastbeitrag erinnert sich Ute Gerhardt. Vielen Dank für diesen spannenden Bericht!
Sowohl mein Vater als auch meine Mutter wurden bereits mit geschädigten Augen geboren und besuchten bis zum Beginn ihres Berufslebens die Blindenschulen in Ilvesheim bzw. Soest. An die vollständige Erblindung meines Vaters kann ich mich nicht erinnern. Die meiner Mutter verlief - bedingt durch Retinopathia pigmentosa - schleichend. Mich selbst sollte es eigentlich nie geben, denn 1969 war über die Ursachen der Augenerkrankungen meiner Eltern noch nicht viel bekannt und ein Genfehler nicht ausgeschlossen. Aber wie das Leben so spielt...
So richtig bemerkt, daß in meiner Familie etwas anders war, habe ich erst im Kindergarten.
Nein, falsch, ich muß mich korrigieren: Im Kindergarten habe ich erstmals festgestellt, daß Sehende unsere Familie als anders _empfanden_. Denn eines Tages fand - für mich völlig überraschend und unverständlich - ein Ausflug unserer Gruppe zu mir nach Hause statt. Dort angekommen, wurde meine Mutter von den anderen Kindergartenkindern darüber ausgefragt, wie sie denn kochen könne, waschen, lesen, schreiben, einkaufen, putzen... Ich verstand die Welt nicht mehr. Warum war für diese Kinder etwas Besonderes, was meine Mutter ganz selbstverständlich tagtäglich tat? Meine Verwunderung war sicherlich auch dadurch bedingt, daß der Freundes- und Bekanntenkreis meiner Eltern ebenfalls zu einem großen Teil aus Blinden bestand, die oft ihrerseits Kinder hatten - sowohl sehende als auch blinde.
In unseren Familien waren es wir Kinder, die unseren Eltern vorlasen, statt umgekehrt. Ich lernte Fahrpläne, Wagenstandanzeiger und Kontoauszüge lesen, bevor Kinder sehender Eltern überhaupt wußten, was eine Bank oder wo der Bahnhof ist. Ich war Mitglied der Stadtbücherei, bevor ich in die Schule kam. Ich lernte buchstäblich spielend Hindernisse im Dunkeln anhand des Echos wahrzunehmen, das sie zurückwarfen, wie mein Vater es mir beschrieben hatte. Ich lernte ohne hinzusehen ein Gefäß mit Wasser zu füllen und am Klang zu bestimmen, wie voll es ist. Ich führte meine Eltern durch unbekanntes Terrain - und auch ab und zu vor einen Laternenpfahl. Shit happens, da war ich nicht die Einzige. Und trotz all dieser Dinge waren es noch immer meine Eltern, die das meiste für mich taten. Nicht umgekehrt. Was die Augen nicht mehr hergaben, wurde durch Tast-, Geruchs- und Gehörsinn sowie Kombinationsgabe und Ideenreichtum kompensiert. Meine Mutter hat mich Blockflöte spielen und viele Gedichte gelehrt, mein Vater brachte mir das Schachspielen und Schwimmen bei und hat mir auf seinem Blinden-Atlas Geographie sowie die ersten Grundzüge der Astronomie erklärt. Beide haben qualifizierte Berufe ausgeübt. Sie haben mehr Bücher auf Tonband und in Brailleschrift gelesen als viele Sehende in Schwarzschrift. Für mich war also im Grunde alles genau wie bei anderen Kindern auch. Zunächst.
Mit den Jahren stellte ich allerdings fest, daß es durchaus Unterschiede gab. Teilweise sehr zweischneidige. Aussehen hat zum Beispiel bei der Auswahl der Freunde meiner Eltern nie eine Rolle gespielt. Ob sich jemand geschmackvoll kleidete oder als Punker herumlief, die Form eines Gesichts oder die Farbe einer Haut war schlicht nicht von Belang. Ich lernte durch meine Eltern von Anfang an auf andere Dinge zu achten. Auf Inhalt, Klang, Lautstärke und Tonfall der Stimme, auf den Duft (oder Geruch...), auf Händedruck, Schritt und Lachen eines Menschen. Der Rest war uninteressant. Da fand Multikulti und Integration ganz selbstverständlich statt. Das war die eine Seite der Medaille.
Die andere wurde sichtbar, wenn meine Mutter für mich Kleidung kaufen ging. Ich konnte ziemlich sicher sein, daß sie mit den Ladenhütern zu Hause ankam, die man den sehenden Müttern nicht andrehen konnte. Funktional und dem Wetter immer angemessen, aber größtenteils altbacken und hoffnungslos unmodern. Meine Eltern wußten schlicht nicht, was "in" war in meiner Altersgruppe. Bei einer Schulaufführung in der Westfalenhalle war ich das einzige von 400 Mädchen, das keine Jeans besaß. Mein Aussehen machte mich mit zur Außenseiterin. Man ließ sich gerne von mir Nachhilfe geben, aber zu Geburtstagen wurde ich sehr selten eingeladen. Ich war einfach nicht cool genug. Andererseits: Auch ich konnte meine Freundschaften somit schon früh daran messen, wer an mir selbst interessiert war, statt an den Marken meiner Kleidung, der Coolness meines Haarschnitts oder den Raffinessen meines bis heute nicht vorhandenen Make-Ups.
Interessanterweise war einer der Aspekte, auf die ich als Kind am häufigsten angesprochen wurde, das Fehlen eines Autos. Wie man auch ohne ein solches einkaufen oder weite Ferienreisen unternehmen konnte - und das noch dazu als Blinde mit Kind - war für viele offenbar ein Mysterium. Über den genauen Inhalt ihrer Zweifel und Befürchtungen kann ich nur spekulieren. Sie reichen vermutlich vom Warten auf dem falschen Bahnsteig" über ein Umsteigen in den verkehrten Zug bis hin zur Unfähigkeit, überhaupt Fahrkarten zu besorgen. Fakt ist jedoch. Bis ich die Grundschule beendet hatte, hatte ich mit meinen Eltern bereits mehrere europäische Länder bereist. Allesamt mit Zug & Taxi. Das ist mehr, als ein Großteil meiner Klassenkameraden von sich behaupten konnte.
Natürlich habe ich die Blindheit meiner Eltern auch wissentlich ausgenutzt. Noch etwas, auf das ich des öfteren angesprochen wurde. Die bekritzelte Tapete oder zerrissene Hose verschweigen... Mal eben bei Tisch noch eine Scheibe Käse mehr auf die Schnitte legen... Oder dem Vater die ungeliebte Mettwurst auf den Teller mogeln... Beim Essen ein Buch lesen... Kein Problem. Bis das Klappern des Löffels oder das Rascheln der Seiten beim Umblättern auffiel. ;-)
Der Alltag mit blinden Eltern hat mir sicherlich in mancher Hinsicht mehr Selbständigkeit und Wissen abverlangt und mehr Verantwortung auferlegt als den meisten Kindern sehender Eltern. Ich persönlich betrachte das allerdings heute noch als Vorsprung und muß auch ganz klar ergänzen: Wie in jeder Familie hängt der Werdegang eines Kindes mehr von der Persönlichkeit der Eltern als von deren Behinderung ab. Was zählte, war nie, was meine Eltern nicht konnten, sondern ihr Optimismus, ihr Interesse an Neuem, ihr Humor, ihr Wille, einen Weg zu finden, sich ihre Grenzen einzugestehen und ggf. auch Hilfe anzunehmen - für sich selbst oder für ihr Kind.
Freitag, 10. Juli 2009
Ein Hürdenlauf
Relaunch ist ein beliebtes Wort im Web. Kündigt ein Onlineshop, ein Nachrichtenportal oder ein soziales Netzwerk einen Relaunch an, hält sich meine Begeisterung meist in Grenzen. Stattdessen frage ich mich, ob ich die Seite zukünftig noch werde nutzen können. Für blinde und sehbehinderte Menschen ist das Bewegen im Netz nicht Surfen, sondern ein Hürdenlauf. Denn schließlich muss der Screenreader die Website so umsetzen, dass sie mit Vergrößerungssoftware, Braillezeile oder Sprachausgabe gelesen werden kann.
Den letzten Teil meiner "Blind-im-Web"-Serie finden Sie bei den Blogp iloten.
Freitag, 5. Juni 2009
Blogs als Chance
„Gehst Du ins Kino?“, fragten meine Mitschüler. In der Uni hieß es: „Kannst Du die Referatstexte lesen?“ Und heute im Beruf: „Kann ich Ihnen E-Mails schicken?“ Fragen beantworten ist für blinde Menschen Alltag. Und häufig sind die Fragen Auftakt zu einem spannenden Erfahrungsaustausch. Für mich als PR-Fachmann sind Dialog und Schreiben alltäglich. Warum nicht das Medium Blog nutzen, um bemerkenswerte Ereignisse aus meinem Beruf und meiner Freizeit zu berichten?
Den vollständigen artikel finden Sie bei den Blogpiloten.
Donnerstag, 4. Juni 2009
Blind im Alter
Wie stellen Sie sich eine blinde Seniorin vor? Viele Menschen antworten auf diese Frage wohl mit "Hilfebedürftig", "einsam" und "unglücklich". Diese Schlagworte treffen auf Ruth Wunsch nicht zu. Die 78jährige, blinde Hamburgerin bereist die ganze Welt, lacht viel, engagiert sich in der Kirche und im Blinden- und Sehbehindertenverein Hamburg, dessen Ehrenmitglied sie ist. Und sie schreibt: eine Biografie, Reisebücher und einen bewegenden Brief an die Zukunft. Mit ihrem Text gewann Ruth Wunsch den Seni oren-Schreibwettbewerb von Aktion Mensch und Diakonie. Sie und ihr Co-Autor Matthias Brömmelhaus lesen am kommenden Mittwoch, 10. Juni, 19 Uhr, auf der Flussschifferkirche Hamburg. Mehr Infos zu dem Tour-de-Braille-Event finden Sie auf der Homepage des BSVH.
Dienstag, 26. Mai 2009
Blind in Web: Ein Stück Normalität
Blinde und sehbehinderte Menschen lesen Zeitung. Sie gehen allein einkaufen. Und sie arbeiten. Internet sei dank. In einer kleinen Serie von Gastbeiträgen stelle ich das blinde Netz bei den Blogpiloten vor. Ich bedanke mich bei Steffen Büffel und seinem Team für die Zusammenarbeit.
Freitag, 22. Mai 2009
Antworten an Himmelfahrt
An regnerischen Feiertagen wie Christi Himmelfahrt, an denen Hagel und Gewitter über die Hansestadt herfallen, kann unsereins ganz ohne schlechtes Gewissen ins Web abtauchen. Gern schauen die bezaubernde Anna und ich dann bei Blogthings.com vorbei. Gerade in Zeiten, in denen Facebook von stümperhaften und langweiligen Quiz-Applikationen überschwemmt wird, sind die kleinen Tests bei Blogthings ein wahrer Segen. Liebevoll und humorvoll sind sie geschrieben, viele Fragen regen zum Nachdenken an. Die Ergebnisse sind menschenfreundlich und erfrischend unzynisch.
Einige Ergebnisse: Ich bin Yellow, Shampoo, Super Spiritual, Observant in Life, mein Birthday's Wisdom is Creation, ich bin Blogthings zufolge Salty und The Bedroom, mein Hintern verrät über mich You're Competitive, ich glaube Love is Private, und meine letzten Worte werden sein "What we know is not much. What we don't know is enormous."
Gut, dass es das Web und Blogthings gibt: Sonst wüsste ich nicht, wer ich bin. Und was verrät die Seite über Sie? Ich freu mich auf Ihre Ergebnisse in den Kommentaren.
Sonntag, 17. Mai 2009
Der ganz normale Bahnsinn
Verlieren Sie nie Ihre Bahn-Card in einem Zug der Deutschen Bahn. Als ich vor einigen Wochen mein Etui mit Ausweis und Bahn-Card beim Aussteigen am Dammtor im Abteil vergaß, ahnte ich nicht, welch einen Spaß ich noch haben würde. Der Zug sollte in Altona enden. Das Reinigungspersonal würde meine an sich wertlosen Sachen finden, und ich würde dann zum Fundbüro gehen, und alles wäre super. So dachte ich mir das. Die Realität war eine andere. Entweder wurde der ICE in Altona nicht gereinigt, oder das Personal nahm es nicht so genau mit den Fundstücken. Jedenfalls konnte mir die Online-Suche auch zwei Wochen nach dem Verlust kein Ergebnis liefern. Mein persönliches Vorsprechen im Fundbüro der Bahn am Hamburger Hauptbahnhof erbrachte nur eine patzige Antwort des Mitarbeiters: "Da stand ja Ihr Name drin. Sie hätten von uns gehört." Aha, Fehler ausgeschlossen, logisch.
Ähnlich hilfsbereit war der Mitarbeiter im Reisezentrum Dammtor, den ich für meine nächste Bahnfahrt um eine vorläufige Bahn-Card bat. Da ich dort bereits im Februar einmal eine solche erhalten hatte, wusste ich, dass das prinzipiell möglich ist. "Das machen wir nicht. Da müssen Sie die Bahn-Card-Hotline anrufen. Sie kriegen dann in zehn Tagen eine neue Karte, kostet 15 Euro. Und Sie müssen sich jetzt eine Fahrkarte zum vollen Preis holen. Die kriegen Sie später erstattet, das kostet auch 15 Euro." Ob der Verdacht, dass der Mitarbeiter seinem Job eher lustlos nachgeht, unbegründet ist? Ich erklärte ihm jedenfalls, dass ich bereits ein ermäßigtes Online-Ticket für die nächste Tour nach Frankfurt/Main hätte. "Da kann ich Ihnen gar nicht helfen. Online ist ja unsere Konkurrenz." Ich gab zu verstehen, dass doch alles Deutsche Bahn sei, ob nun Schalter oder Onlineshop. "Die Zeiten sind lange vorbei. Das sind alles eigene Firmen." Schön, wenn interner Wettbewerb auf Kosten des Kunden ausgetragen wird.
Der unfreundliche Dammtor-Mann wandte sich immer wieder an meine Begleitung, nicht an mich. Blinde Kunden sind wohl keine gleichwertigen Kunden. Wie dem auch sei: Selbst wenn der Herr von seinem Vorgesetzten eingeschärft bekommen haben sollte, dass er nicht die betriebsinternen Feinde vom Onlineverkauf unterstützen dürfe, so hätte er mir doch zumindest anbieten können, einmal beim Bahn-Card-Service anzurufen und zu klären, wie ich jetzt weiter vorgehen sollte. Nein, stattdessen kritzelte er einem nichtsehenden Kunden die Telefonnummer der Bahn auf einen kleinen Zettel und schickte mich weg. Mein Zug sollte in einer halben Stunde fahren. Service, Spontanietät und Offenheit sind bei der Bahn keine Tugenden.
Samstag, 9. Mai 2009
PR'üfungen
Acht Seminar-Wochen, zwei Repetitorien, etliche Tage mit Büchern über Theorie und Praxis der Öffentlichkeitsarbeit liegen hinter mir - und drei Klausuren. Am vergangenen Mittwoch und Donnerstag schrieb ich sie in Frankfurt am Main. Die Räume der Stiftung für Blinde und Sehbehinderte verwandelten sich in einen Prüfungsort. Elemente von PR-Konzeptionen, journalistische Textgattungen, Anforderungen an Pressemitteilungen waren Thema. Außerdem musste ich aus vorgegebenem Infomaterial innerhalb von 60 Minuten eine Pressemitteilung verfassen. Sechs sehbehinderte und blinde Köpfe rauchten. Unsere Finger rauschten über die Punkte unserer Braille-Zeilen. Wir lauschten den schnell gestellten synthetischen Sprachausgaben unserer PC's. Diejenigen von uns, die noch über ein bisschen Augenlicht verfügen, hatten ihre Gesichter dicht vor die zehnfache Vergrößerung auf ihren Laptop-Bildschirmen gepresst. Ich bin guter Dinge, dass wir alle die Prüfungen der Akademie für Kommunikationsmanagement bestehen und ich mich nach der mündlichen Prüfung am 29. Mai PR-Juniorberater (AKOMM) nennen darf. Hoffentlich behalten alle Teilnehmer der Weiterbildungsmaßnahme ihren Job oder finden einen neuen Arbeitgeber. Ich drück uns alle Daumen für die letzte Prüfung und für die berufliche Zukunft.
Montag, 4. Mai 2009
April: Eine Bilanz
Vögelzwitschern, -gurren, -fiepen. Ein Hauch von Wind zieht über sonnig erwärmte Haut. Vier Beine huschen durch das Gras und springen in den Teich. Ich beneide den Hund. Er springt unbeschwert in jedes Nass. Von Grenzwerten und Umweltverschmutzung weiß er nichts. Ein zauberhaftes Lachen tanzt neben mir. Zarte Hände greifen nach meinen. Dieser April ist Glück, ist Zukunft. Flugzeuge rauschen über den Stadtwald. Fahrrad-Familien surren vorbei. Die Welt ist in Bewegung. Und meine Welt steht still. Eine Leidenschaft ohne Leiden ist die absurde Freude dieser Tage. Dieser April bleibt.
Donnerstag, 9. April 2009
Zu früh
"Zu früh", denk ich. Kaffee- und Muffin-Duft dringt in meine Nase. Er kündigt mir das Ziel meines frühabendlichen Ausflugs an. Nach 50 Metern vernehme ich das typisch dumpfe, aber konstant laute Murmeln: vor allem weibliches Lachen, dazu männliche Geschäftigkeit und kindliches Fordern. Die glatten Bodenplatten des Eingangs weisen mir den Weg. Die Kugel am Ende meines weißen Stockes rollt gleichmäßig von links nach rechts vor mir her, links, rechts, links, rechts, links, rechts.
"Entschuldigen Sie", rufe ich auf's Geratewohl in das Stimmenwirrwarr, "ist noch ein Zweiertisch frei?"
"Nicht wirklich", sagt eine gequetschte Stimme, die gewiss einer Mutter gehört.
"Doch doch, dahinten", dröhnt ein rauher Männerbass, der neben der Sachinformation schweren Bierdunst zu mir trägt. "Ich helf Dir!"
ob der Ü-50er jeden duzt oder nur Blinde, frage ich mich. Immerhin zerrt er mich nicht zum freien Platz, sondern bietet mir seinen Arm an. "Ich hab Erfahrung mit Euch", sagt er und lacht.
Ich ahne schon, dass ich diesen Herren nicht so einfach loswerde. Er legt meine Hand auf die Stuhllehne. Ich setze mich.
"Na, wie hab ich das gemacht?", fragt er.
"Alles perfekt, danke", antworte ich.
Er setzt sich auch. Ich wusste es. Wird er mir jetzt von seiner erblindeten Mutter berichten oder von seinem Berufsalltag als Altenpfleger oder Sonderschullehrer, Erzieher für blinde Kinder vielleicht?
"Ich war mal im Dialog im Dunkeln", platzt es aus ihm heraus. "Ich find Euch voll faszinierend. Ich bin Jürgen!" Eine fleischige, durch die Sommerhitze feuchtgeschwitzte Hand greift nach meiner.
Jetzt sind wir wohl Kumpel, denke ich und sage: "Ich bin Jan, hallo Jürgen."
"Und schon immer blind?" Wenigstens ist er unverkrampft.
"Nein, sechs war ich, ein Unfall."
"Schlimm, schlimm. Naja, das Leben muss weiter gehen. Jürgen weiß bescheid, denke ich.
"Ja, man findet seinen Weg", sage ich und möchte von Blindenschrift, sprechenden Uhren und Kochkursen für Blinde reden.
"Ihr entwickelt ja auch einen sechsten Sinn", unterbricht mich mein Gegenüber.
Ich habe ja nicht einmal einen fünften Sinn, denke ich und sage es auch.
Er schweigt - wer hätte gedacht, dass er das kann? - verdutzt. "Ja, nein, ich meine, Ihr nutzt andere Sinne."
"Ja, das stimmt", antworte ich in der Hoffnung, auf sicheres und vertrautes Smalltalk-Terrain gelangt zu sein. "Wenn ich an einer Kreuzung bin, dann höre ich an den parallel anfahrenden Autos, dass ich grün habe."
"Schon klar. Du kannst bestimmt auch hören, wie ich aussehe", fragt Jürgen die für einen Sehenden nicht allzu ungewöhnliche Frage.
"Nein, und es interessiert mich auch nicht. Wie jemand aussieht, spielt für mein Leben keine Rolle."
"Das ist toll!", findet Jürgen.
Kann nicht mal die Bedienung kommen, denke ich.
"Dieser ganze oberflächliche Quatsch ist Euch egal"! Wären doch alle Menschen so!" Jürgen schwärmt. "Du siehst das Wesentliche. Sei froh, dass Du den ganzen Scheiß nicht angucken musst. Du siehst, welche Menschen gut sind", frohlockt er. Und ich bin mir sicher, dass er sich für gut hält.
Ich wünsche mir den guten Menschen herbei, mit dem ich hier verabredet bin.
Ich setze an, Jürgen auf den Boden der Tatsachen zurückzuholen. Aber da will er gar nicht hin. Er will nicht hören, dass blinde Menschen so unterschiedlich wie sehende sind, dass die einen wissen wollen, wie jemand aussieht, die anderen nicht, dass die einen musikalisch sind, die anderen nicht, dass die einen voll integriert, die anderen lieber unter sich sind, dass die einen oberflächlich und die anderen weltoffen sind. Jürgen holt lieber zum finalen Schlag aus:
"Ich bin mir sicher, Ihr könnt hellsehen!"
Jetzt bin ich verdutzt. Nach einer Pause bricht sich meine Verwirrung in einem kraftvollen Lachen bahn. Ich lache und lache, immer lauter.
"Nein, wirklich", versucht Jürgen zu begründen. Aber ich kann ihm nicht mehr zuhören. Ich zittere, bebe vor Lachen. Hellsehen. Was kommt noch? Mit Tieren sprechen? Gold scheißen?
"Hier ist ja eine tolle Stimmung", sagt die weiche, klare Stimme, die sich heut in Rosenduft hüllt. Die zarte Hand des guten Menschen, mit dem ich verabredet bin, streicht über meine Wange. Und ich schwöre mir, nächstes Mal nicht zu früh hier zu sein.
(Dieser Blog-beitrag ist fiktiv. Er ist mein Beitrag zum Themen-Abend "Esoterik" in der "Mathilde Hamburg", 7. April 2009.)
Montag, 16. März 2009
Doch, sie stören
In Hamburg-Altona gibt es Streit. Der Bezirk möchte die Zahl der Aufstellschilder vor Geschäften reduzieren. Die Begründung: die Schilder versperren Personen mit Kinderwagen und blinden Menschen den Weg. In der vergangenen Woche rief mich ein Journalist an: "Ich kann mir das nicht vorstellen, dass die stören", sagte er mir. Doch, das tun sie. Insbesondere wenn sie nicht direkt vor dem Geschäft, sondern mitten auf dem Bürgersteig stehen. Wie oft schlage ich mit meinem weißen Stock gegen diese Hindernisse - wenn es gut läuft. Wenn es schlechter läuft, dann stehen sie so, dass nicht mein Stock gegen sie stößt, sondern mein Ellbogen oder Knie. "Aber man muss doch abwägen", gab der Medienkollege zu bedenken, "die Interessen der wenigen Blinden und das Informationsbedürfnis von zwei Millionen Hamburgern." Man kann sicher über den Informationsgehalt von vermeintlichen Sonderangeboten streiten. Und 3000 blinde und weit über 40.000 sehbehinderte Hamburger sind auch kein Pappenstiel. Und deren Interessen vertrete ich. Daher: Ich freue mich über jedes Schild, über jedes Hindernis, über jede Barriere, das oder die von Hamburgs Bürgersteigen verschwindet.
Donnerstag, 19. Februar 2009
In die Grube
In Mainz ist eine blinde Frau in einen offenen, schlecht gesicherten Kabelschacht gestürzt. Glücklicherweise hat sie sich nur leicht verletzt. Dennoch: es hätte auch anders kommen können. Zurecht verlangt der rheinland-pfälzische Behindertenbeauftragte Ottmar Miles-Paul eine bessere Absicherung von Baustellen. Immer wieder höre ich von Fallen, die besonders blinde und stark sehbehinderte Menschen bedrohen. Bisher ist mir noch nichts derartiges passiert. Meist sind die Baustellen auf meinen Wegen mit Metallabsperrungen gesichert. Wenn Bauarbeiter gerade am Werk waren, haben sie mir bisher in der Regel Hilfe angeboten und mich rechtzeitig auf das Loch im Boden aufmerksam gemacht. Ist eine Baustelle aber nur mit einem flatternden Band abgesperrt, dann droht Gefahr. Mit dem weißen Blindenstock fühlt man es nicht oder zu spät und schon ist man mit einem Fuß in der Grube. Bleibt zu hoffen, dass Ereignisse wie das in Mainz die Öffentlichkeit für dieses Thema sensibilisieren.
Sonntag, 15. Februar 2009
Blogs und Bilder
Das WWW ist wahrlich ein weites Web. Inhalte über Inhalte. Wo wir beim Stöbern hängen bleiben, ist oft zufällig und abhängig von unseren persönlichen Vorlieben. Vielleicht spricht uns ein Layout besonders an, das Bild eines Bloggers erscheint uns sympathisch. Aber wie ist es, wenn man ohne Augenlicht surft? Wenn eine synthetische Sprachausgabe die Inhalte der Websites vorliest und Punkte auf der Braillezeile unter den Fingerkuppen hochschnellen?
Schöne Bilder können mich nicht in ihren Bann ziehen. Im Gegenteil: sie schrecken mich meist eher ab. Die Onlineangebote der öffentlichrechtlichen Rundfunkstationen haben in der Regel Bildbeschreibungen im Alternativtext, so dass ich von meiner Sprachausgabe zumindest knappe Beschreibungen vorgelesen bekomme. Viele Online-Angebote von Zeitungen - so z.B. Abendblatt.de - bieten ebenfalls Alternativ-Texte. Kaum ein Blogger nutzt diese Möglichkeit. In der Regel kann ich mit Schnappschüssen nichts anfangen. Wenn ich sie überhaupt bemerke, dann als kryptische Zeichenfolgen ohne Sinn und Verstand. Statt des witzigen Bildes lese ich dann z.B. "flickr-photo { border: none; } .flickr-yourcomment { } .flickr-frame { text-align: center; padding: 3px; } .flickr-caption { font-size: 0.8em; margin-top: 0px; }". Ein kurzer ergänzender Satz wie "Gunnar isst Schnitzel" oder "Karla tanzt Tango" würde schon reichen, um Surfern mit einer Sehbehinderung den Weballtag zu erleichtern und Seiten für sie übersichtlicher zu gestalten. Ein außergewöhnliches Beispiel für eine tolle Beschreibung findet sich im "Unendliche Weiten"-Beitrag im J.A.-Blog.
Was lässt mich bei einem Blog stoppen, wenn nicht die Bilder? Es sind tolle Überschriften, die Lust auf Mehr machen. Manchmal ist es ein Name, zu dem ich positive Assoziationen habe - völlig willkürlich. Und dann ist es im zweiten Schritt vor allem die Sprache. Schreibt der Autor spannend, humorvoll, interessant? Benutzt er kluge oder originelle Metaphern? Schreibt er ausführlich, wenn es sinnvoll, und pointiert, wenn es möglich ist? Und schließlich - das gilt letztlich für sehende wie blinde Surfer gleichermaßen: Sind die Themen ansprechend, haben die Beiträge Informations- und Unterhaltungsgehalt?
Mehr Infos zu barrierefreier Webgestaltung finden Sie auf den seiten des BIK-Projektes
Und warum lesen Sie Blind-PR? Die virtuosen Bilder sind es wohl nicht.
Sonntag, 1. Februar 2009
Ketten, die klingen
Wie nehme ich als blinder Mensch Schmuck wahr? Welche Ketten, Ringe und Armbänder mag ich An anderen? Womit ziere ich mich selbst? In einem Gastbeitrag für Jochen Schepps Schmuck-Blog habe ich darauf geantwortet. Jochen, vielen Dank für die Veröffentlichung! Sie, liebe Leserinnen und Leser, finden den Artikel hier.
Freitag, 30. Januar 2009
Schweigsamer Mitfahrer
Mit meinem Schwerbehindertenausweis kann ich im Zug eine Begleitperson mitnehmen. Daher inseriere ich gern mal bei Mitfahrgelegenheit.de und suche mir dort Mitfahrer. Im Normalfall hatten die Leute vorher noch keinen Kontakt mit blinden Menschen. Daher ist es immer spannend, wie sie sich verhalten. Es schwankt zwischen großer Freundlichkeit und Offenheit bei den meisten und schüchterne Unsicherheit bei den Anderen. Die Beschreibung "Schüchterne Unsicherheit" ist für meinen heutigen Reisebegleiter auf der Strecke Frankfurt-Hamburg noch arg untertrieben. Kein Wort, keine Frage, nichts. Das ist schon extrem ungewöhnlich. Das nehme ich zum Anlass, einmal darüber nachzudenken, was mir wichtig erscheint im Umgang zwischen Blind und Sehend.
Unsicherheit ist normal. Fragen sind es auch: "wie orientierst Du Dich?" "Wodurch bist Du erblindet?" "Wie träumst Du?" "Wünschst Du Dir, wieder sehen zu können?" "Kannst Du am Computer arbeiten?" und viele mehr. Ich beantworte diese Fragen gern. "Du musst wahrscheinlich auf jeder Zugfahrt dieselben Dinge erzählen", hat mal eine besonders interessierte Mitfahrerin gesagt.
Es stimmt, dass sich einige Fragen häufiger wiederholen. Aber was soll's. Immerhin kenne ich mich in dem Themengebiet gut aus. Und - diese Erfahrung machte ich in der Uni ebenso wie im Beruf - nur wenn die Unsicherheiten und das Unwissen aufgebrochen werden, kann Normalität im positiven Wortsinn überhaupt entstehen. Als ich während meiner Unizeit in Referatsgruppen auftauchte, machte sich zunächst Ratlosigkeit breit. In Schweigen oder in zaghaften, auf political Correctness bedachten Bemerkungen hörte ich das "Wie will der denn bei uns mitarbeiten" heraus. Die Spannung wurde immer geringer, je mehr ich erzählte, dass mein PC sprechen könne, dass ich mir Texte für das Referat einscannen und synthetisch vorlesen oder auf Kassette sprechen lassen könne. Und dann kamen auch Fragen, mutiger und neugieriger, nach meinem privaten Umgang mit der Behinderung. Und danach? Danach waren wir einfach nur eine Referatsgruppe mit ganz unterschiedlichen Leuten: nervösen und coolen, hässlichen Entlein und Fotomodels, Besserwissern und Nachdenklichen, Sehenden und Blinden.
Daher mein Plädoyer - vielleicht etwas pathetisch, aber was soll's: Fragen Sie, sprechen Sie mit behinderten Nachbarn, Kollegen, Zugpassagieren. Wenn die Betroffenen gerade keine Lust auf Fragen-Beantworten haben, dann sagen diese Ihnen das schon. Wie bei allem gilt im Umgang zwischen blinden und sehenden Menschen - und vielleicht gerade da -, dass wir nur im Dialog Gemeinsamkeiten entdecken und unsere Ängste verlieren können. Amen.
Sonntag, 11. Januar 2009
Wie soll sein Schnitt?
Friseur-Besuche können doch sehr ernüchternd sein. Ich meine nicht den entstandenen Haarschnitt, sondern dass ich dort einmal mehr mit dem Bild konfrontiert wurde, das ein nicht unerheblicher Teil der Gesellschaft von blinden Menschen hat. Eigentlich habe ich bei "Gute Köpfe" meist positive Erfahrungen gemacht: die MitarbeiterInnen boten mir ihren Arm an, begleiteten mich durch den wuseligen, mit hipper Musik beschallten Laden und plauderten ein Wenig mit mir. Mit den Frisuren war ich auch immer zufrieden. Aber letzten Freitag - wie schon auf Twitter verkündet - war es bizarr. Als ich auf dem Stuhl Platz genommen hatte, legte mir die Friseurin den Umhang um und ging schnurstracks zu meiner Freundin.
"Wie soll sein Schnitt?", fragte sie Anna.
"Fragen Sie ihn", antwortete diese.
Verwirrt und etwas unsicher kam die Gute-Köpfe-Dame zu mir. "Ich dachte, Du wärst blind."
"Das bin ich auch", antwortete ich, "trotzdem kannst Du mich fragen."
Nachdem ich ihr beschrieben hatte, was ich wollte, sagte sie kein Wort mehr. Bis sie mich fragte, ob ich einmal anfassen möchte, ob es so okay sei. "Geht doch", dachte ich.
Unsicherheit im Umgang mit behinderten Menschen ist ganz normal. Ich selbst bin zum beispiel oft nervös, wenn ich mit geistigbehinderten Menschen spreche. Aber sollte es nicht selbstverständlich sein, dass wir dann fragen stellen, undzwar dem betroffenen und nicht seiner Begleitung. Ich war beim Friseur und wollte einen neuen Haarschnitt. Da werde ich doch wohl auch wissen, was ich möchte. Zumal man Haarschnitte ja nun wirklich fühlen kann. Stattdessen werden behinderte Menschen viel zu häufig nicht auf einer Augenhöhe betrachtet.
Gerade in Deutschland sehen viele Menschen in uns hilflose, hilfebedürftige und unselbstständige Wesen. Ich erlebe es immer wieder: in der U-Bahn, bei Ärzten und in Geschäften. Ich möchte nicht wie ein Kind behandelt werden. Das ist doch wohl das Mindeste, was behinderte Menschen sich wünschen dürfen. Für die Selbsthilfe-Organisationen - wie dem Blinden- und Sehbehindertenverein Hamburg - gibt es da noch viel an Öffentlichkeitsarbeit zu tun, um das Behinderten-Bild in Deutschland Stück für Stück zu modernisieren. Und auch jeder Einzelne ist gefordert, den Mund aufzumachen, auch wenn es Kraft kostet. Denn in der Regel ist es kein böser Wille, der hinter dem verhalten der nichtbehinderten Mitbürger steht. Es ist einfach Unwissenheit. Und die muss weg!
Schön, dass es meistens aber anders ist. Beim Curry-Grindel fragte mich der Chef nach meinem Friseur-besuch: "Haben Sie großen Hunger?" Ich sagte ja. "Na, Sie sehen ja jetzt nicht, was ich hier tue", sagte er lachend und schaufelte mir dabei einen gewaltigen Pommes-Berg auf den Teller. Ich lachte mit ihm.
Dienstag, 16. Dezember 2008
Keks meets Kultur
Neben der Feuerzangenbowle gibt es noch ein Weihnachtsritual für mich. Seit gefühlten Jahrzehnten veranstaltet Rheinhold am dritten Advent seine Keks-meets-Kultur-Feier. Das Konzept ist denkbar einfach und genial: am Nachmittag wird kollektiv Teig geknetet, wird derselbe mit Förmchen ausgestochen, werden Plätzchen gebacken. Und wenn die gesamte Runde vollkommen überzuckert ist von Keksen und Glühwein, dann zeigt jeder, was er kann. Die einen singen Bob Dylan und Tom Waits mit Gitarren-Begleitung. Die anderen spielen Tanzmusik vom Balkan und die Monkey-Island-Musik auf dem Akkordeon. Eigen-Kompositionen gehören ebenso zum immer überraschenden und inspirierenden Programm. Und gelesen wird auch. Neben eigenen Kurzgeschichten habe ich in diesem Jahr erstmals einen kleinen privaten Jahresrückblick vorgetragen, gespeist aus diesem Blog. Ein grandioses Editors-Konzert, die anrührende Hochzeit der Trevors und mein persönlicher Theater-Sommernachtstraum wurden im Kreise meiner Freunde und Bekannten noch einmal lebendig. Eigentlich schade, dass nur einmal im Jahr dritter Advent ist. Es ist schön, zu entdecken, was in den Menschen steckt. Und man vergisst manchmal, wieviel kulturelles Können einen im Alltag und persönlichen Umfeld umgibt.
Donnerstag, 4. Dezember 2008
Mein Zauberhügelchen
"Leben ist Leiden", soll schon der alte Buddha gesagt haben. Recht hatte er. Der Hals ist wund, der Husten bricht sich Lawinenartig seine Bahn. Der Schnupfen sprengt sich seinen Weg in eine von Pfefferminzöl und Hustensaftduft erfüllte Wohnung. Der fiebrige Körper schwitzt, friert und glüht im minütlichen Wechsel. Erstmals gehe ich aufgrund einer Krankheit nicht ins Louis-Braille-Center zur Arbeit. Ich leide vor mich hin, schlafe gefühlte 30 Stunden am Tag, wache nur auf, um nach synthetisch gesüßtem Tymian schmeckende Medizin zu schlucken, Bananen und Mandarinen zu essen und die nötigsten Mails zu beantworten. Was für ein leben. Und doch kann ich irgendwie verstehen, was Thomas Mann bewegt haben muss, als er den Zauberberg schrieb, sein grandioses Meisterwerk über das Leben in Krankheit, die Auseinandersetzung mit der körperlichen Begrenztheit des Menschen und der Chance, sich aus ihr in geistige Höhen zu erheben. Gut, letzteres ist mir nach zwei Tagen Grippe noch nicht gelungen. Und ich hoffe auch nicht, dass ich am Ende wie Hans Castorp sieben Jahre ins Sanatorium muss. Erstmal lege ich mich mal wieder hin.
Samstag, 22. November 2008
Ü30 auf dem Spielplatz
Ein Tag "nur für Erwachsene" auf einem Indoor-Spielplatz, das klingt etwas befremdlich. Und ich gestehe es, als Tante Trevor anlässlich ihres Geburtstages ins Rabatzz nach Stellingen einlud, war ich zunächst skeptisch. "Das ist doch Kinderkram", habe ich gedacht und: "hört die Infantilisierung der Gesellschaft denn nie auf?" Und doch sagte ich zu - Tante Trevor könnte ihren Geburtstag auch in einem Stummfilmkino oder in einer Bilder-Gallerie feiern, ich würde kommen; man hat nicht viele Freunde vom Schlage der Trevors!
Und so fanden wir uns am Donnerstag Abend im Rabatzz ein. Zunächst war ich überrascht, wie voll es dort schon vor dem Eingang war. Drinnen hieß es erstmal die Schuhe ausziehen. Und langsam kam die Kinder-Geburtstagsstimmung auf, die unsereins Mitte der 80er Jahre zum letzten Mal gefühlt hatte. Das wurde durch die Menüs, aus denen wir wählen konnten, noch verstärkt: Spaghetti mit Sauce, Bratwurst mit Pommes, Chicken Nugets mit Pommes oder Salamipizza. Dazu wurde Apfelschorle gereicht. Und um uns herum tobten die Kinder. Nur waren diese alle zwischen 20 und 40. Sie und wir krochen durch Labyrinthe, balancierten auf mehr oder minder hohen Seil- und Wackel-Brücken, setzten mit Mini-booten auf dem Grund des Wasserbeckens auf, rutschten zehnmal die über 30 Meter lange Rutsche herunter (gerade, zu zweit, zu zehnt, manche von uns quer, andere im Stehen), sprangen auf Trampolinen und in Hüpfburgen, prügelten mit Gummi-Knüppeln aufeinander ein, schaukelten in Hänge-Sesseln, bewarfen uns mit Bällen. Und alle waen ganz ungeniert, manche beinah ernsthaft, dabei. Schön waren auch die Ausrufe über die Lautsprecher: "Die Klasse 49B trifft sich an der Kasse....Der kleine Lulatsch soll zum Ausgang kommen..." Drei Stunden vergingen wie im Flug. Mein Fazit: Ja, der Abend war Kinderkram. Ja, die Infantilisierung der Gesellschaft schreitet unaufhörlich voran. Und: es hat Riesenspaß gemacht - Danke Tante Trevor