Sonntag, 27. April 2008

Eine unvollendete Lektüre

"Ein Russischer Roman liest sich wie ein Stück märchenhafter Poesie, als ein fiktives Dokument verlorener Unschuld und gestorbener Träume. Meir Shalev schaut trauernd und sehnsuchtsvoll zurück. Und er gönnt sich dabei einen Anachronismus in rasenden Zeiten - den langen Atem, Geschichten zu spinnen." Das schrieb die Süddeutsche Zeitung dereinst über Meir Shalevs "Ein Russischer Roman". Und ich sitze hier mit diesem angeblich so wunderschönen Buch - und komme einfach nicht voran. Bin ich denn schon so sehr ein Opfer der rasenden Zeiten, dass ich in meinem Leben keinen Platz mehr für den Anachronismus des Geschichten Spinnens habe?

Ich bin überzeugt davon, dass man nicht jedes Buch zuende lesen muss. Nicht jedes Werk entfaltet seine Schönheit erst ab dem letzten Fünftel, sprich ab Seite 800. Und nicht jede von der Kritik gepriesene Erzählung hat etwas mit meiner Welt zu tun. Und bevor ich meine viel zu kurze Lesezeit mit Büchern überfrachte, die mir nicht das Leben bereichern, sondern es nur vollmüllen, lasse ich es lieber. Aber bei Meir Shalevs "Ein Russischer Roman" ist es nicht so einfach. Ich denke immer wieder, dass es noch seine Schönheit entfalten wird, es mir eine bisher verschlossene Seite Israels offenbaren wird. Und so quäle ich mich seit Wochen immer wieder hinein. Blindenschrift-Bücher sind deutlich voluminöser als Schwarzschrift-Literatur. So kam das Buch aus der Bibliothek in drei Koffern hierher, in jedem Koffer zwei dicke Bände. Und ich habe gerade mal einen Band geschafft - heute immerhin zwanzig Blindenschrift-Seiten auf dem Balkon in der Sonne. Das ist lachhaft wenig. Es entsteht keine Spannung in mir, keine Identifikation mit den Figuren. Gelegentlich kommt ein bisschen Märchen-Assoziation auf, aber nur sehr kurz. Die Sprache ist farbenfroh, weich und liebevoll. Nur liebt die Sprache etwas, das ich nicht kenne, zu dem mir jeder Bezug fehlt. Und die Emotionen der Hauptfiguren beim Aufbau von Landwirtschaft, kleinen Dörfern und beim Errichten des Staates Israel bleiben - zumindest nach dem ersten Sechstel des Romans - sehr unscharf. Und so werde ich das Buch wohl tatsächlich unbeendet zurück nach Leipzig schicken, in die Deutsche Zentralbücherei für Blinde. Aber diesmal fällt es mir schwer. Denn irgendetwas schlummert in diesem Buch. Vielleicht passen wir einfach momentan nicht zusammen - und unsere gemeinsame Zeit kommt erst noch.

Mein Beitrag zum Anna-Amalia-Literaturwettbewerb 2005: http://www.abendblatt.de/daten/2005/10/11/491136.html

Freitag, 25. April 2008

Eine verbitterte Generation

Während die vergangene Woche musikalisch maßgeblich von Madsen dominiert war, laufen in dieser Woche überdurchschnittlich häufig Kettcar beim Schreiber dieser Zeilen. Das hat nicht nur mentale Gründe, sondern ist auch dem Fakt geschuldet, dass Kettcar am vergangenen Freitag mit "Sylt" ihr drittes Album veröffentlicht haben. Anlässlich des Releases geben die Jungs zurzeit ihr letztes von sieben Konzerten in ihrer Heimatstadt - angefangen mit dem winzigen Hafenklang, einem An-Deck-Konzert auf der über die Elbe schippernden MS concordia, dem Molotow, bis zu den größeren Clubs Knust, Docks, Fabrik und Markthalle.

Sarah und ich waren am Dienstag im Docks dabei. Kettcar warnten ihr Publikum mehrfach: "Zieht nicht nach Berlin!" Wohl um ihre Worte zu unterstreichen, hatten sie die Berliner Wave-Recken Delbo eingeladen. Ich habe lang nicht mehr eine so furchtbare, unmotivierte Vorband gesehen, geschweige denn einen so schlechten Sänger gehört. Während also ein Hauch von Kreuzberg über der Docks-Bühne hing, standen 1300 Hamburger gelangweilt in der Gegend herum oder rempelten mich pöbelnd und schroff von hinten an. Und ich dachte, was wird das bloß für ein übles Konzert? Ich hatte doch das neueste Kettcar-Album bereits gehört, das vor Verbitterung nur so strotzt. Aus ihm tropft die Enttäuschung der Ü30er, die nicht im ordentlichen, bürgerlichen Leben angekommen sind. Es quietscht, ist kantig, verstörend gut. Und die Jungs scheinen etwas anzusprechen. Sieben ausverkaufte Konzerte und die ersten Verkaufszahlen sprechen für sich. So erlebe ich das Paradoxe: spielfreudige, gutgelaunte Musiker bringen die von Delbo geschockte Masse mit "Deiche" von null auf hundert. 1300 Menschen machen Lärm wie auf einem Tokio-Hotel-Konzert, singen selbst die neuesten Songs schon lauthals mit. Band und Publikum freuen sich zusammen, dass sie die Enttäuschungen des Lebens in Musik aufgehen lassen können. Und endgültig Gänsehaut ist angesagt, als wir nach dem Gig vor das Docks treten. Da stehen Kettcar open-Air auf leeren Astra-Kästen auf dem Spielbuden-Platz, ohne Verstärke, und spielen Landungsbrücken und noch vier Songs mehr und wir ganz vorn. Und alle singen so gut sie können, während der Frühlingsabend uns umgibt, eng zusammen gedrängt: "Dieses Bild verdient Applaus!" Eine verbitterte Generation sieht anders aus.

Links zum Thema

Die TAZ sieht das ganz anders: http://www.taz.de/regional/nord/hamburg/artikel/?dig=2008%2F04%2F24%2Fa0033&src=UA&cHash=435360905a

Offizielle Kettcar-Site: http://www.kettcar.net/

Mittwoch, 23. April 2008

Wertvolle fünf Euro

Hamburg betritt politisches Neuland: Erstmals bilden CDU und Grüne auf Landesebene eine Koalition. Vor wenigen Tagen veröffentlichten die Parteien ihren Koalitionsvertrag. Darin ist verankert, dass das Blindengeld an die Rentendynamisierung gekoppelt wird. Ein Erfolg für unsere Arbeit.

In der vergangenen Legislatur-Periode ist das Blindengeld um über 20 Prozent gekürzt worden. Die Leistung soll blinden Menschen ein eigenständiges, integriertes Leben ermöglichen. Denn das Leben mit Blindheit ist teuer. Bücher kosten das fünf- bis zehnfache eines Schwarzschrift-Exemplars, eine Schreibmaschine gern mal 1000 Euro, für Arzt- oder Behördenbesuche brauchen wir häufiger ein Taxi, für Reisen Begleitpersonen. Die notwendige Leistung Blindengeld wurde in vielen Bundesländern blind gestrichen. Während die Ersparnisse für die Landeshaushalte vergleichsweise gering sind, sind die Einschränkungen im Alltag der Betroffenen enorm. Weniger Selbstbestimmung, weniger Freude am Leben waren und sind die Folge. Dass schwarz-Grün jetzt zumindest die Abwärtsbewegung umkehrt, ist bemerkenswert und positiv. Real bedeutet der Plan momentan eine Jährliche Anhebung um ca. fünf Euro. Das ist für den Einzelnen keine Offenbarung, aber als sozialpolitisches Signal richtig. Blinde Menschen werden nicht dauerhaft abgekoppelt. Sie werden explizit im Vertrag erwähnt. Das ist für die 3000 blinden Hamburger eine Aufwertung, die nicht zuletzt unserem Engagement im Wahlkampf zu verdanken ist.

Links zum Thema

Der vollständige Vertrag als PDF-Dokument: http://www.hamburg.gruene.de/cms/default/dokbin/229/229457.koalitionsvertrag.pdf

Und das haben die Parteien vor der Wahl versprochen: http://www.bsvh.org/news/40/37/

Montag, 21. April 2008

Frühling in Hamburg

Wie wundervoll Hamburg ist, merke ich besonders, wenn es Frühling wird. Und Frühling wird es in diesen Tagen endlich. Die Vögel durchdringen die Stadt mit ihrem Gezwitscher und übertönen - scheinbar spielend - den Lärm der Autos. Im Stadtpark weht der mal sanfte, mal fordernde Wind durch vollere Baumkronen, deren Rauschen immer kräftiger wird. Die Erde duftet nach Leben und Zukunft. Am Hafen strömen Hunderte auf die HVV-Fähren, um immer wieder von den Landungsbrücken nach Finkenwerder und zurück zu fahren und an Deck die Sonne zu genießen. Das Hupen der Dampfer, das Rauschen der Elbwellen, die Gischt auf der Haut, lassen die zarten Pflanzen der Hoffnung und Sehnsucht um so schneller wachsen. Auf den Steinen am Elbstrand zu sitzen, während sich Wolken und Sonne abwechseln - so wie Tränen und Lächeln - ist in dieser Jahreszeit wundervoll. Im Frühling liegt noch nicht die Sattheit eines heißen Grilltages auf den Gemütern der Stadtbewohner, sonder die Leichtigkeit eines langen Spaziergangs. Wenn doch nur immer Frühling wär...

Perforierte Ecken statt Stift und Kreuzchen

Was muss grandioses geschehen, damit man an einem Samstag Nachmittag - genau in dem Moment, in dem die Sonne sich endgültig gegen die Hamburger Wolken durchsetzt - seinen sympathischen Besuch aus der Ferne für fünf Stunden verabschiedet, um sich mit mehr als 100 anderen Menschen in einen stickigen Raum in Lurup zu setzen? Es ist Zeit für Demokratie und Diskussion: Am 19. April hat die General-Versammlung des Blinden- und Sehbehindertenvereins Hamburg den Vorstand für die nächsten vier Jahre gewählt. Da wollte ich nicht fehlen.

Vielleicht liegt es daran, dass ich Politikwissenschaften studiert und schon als kleiner Junge gern Wahlberichterstattung im Fernsehen geguckt habe (weil dort soviel Pannen passierten), Wahlen finde ich immer spannend. Und auch diesmal war es aufregend, wer wohl die Kampfabstimmung um den zweiten Vorsitz und um die zwei Beisitzer-Positionen gewinnt, wieviel Stimmen die Kandidaten erhalten. Die Wahl ist geheim. Damit blinde und sehbehinderte Mitglieder ohne Stift und Kreuzchen, ohne Lupe und Scanner ihre Stimme abgeben können, benutzen wir an den Ecken perforierte, Postkarten-große Zettel. Eine abgerissene Ecke bedeutet eine Stimme für Kandidat 1, zwei abgerissene Ecken eine Stimme für Kandidat 2 usw. Einfach, aber genial. Im Kern wurde der bisherige Vorstand bestätigt. Lediglich der Schriftführer hatte nicht mehr kandidiert und musste ersetzt werden. Somit hatte sich nach fünf Stunden nur wenig verändert, aber manchmal ist ja selbst das eine interessante Nachricht und einen Sonnen-Verzicht wert.

  • 1. Vorsitzende: Petra Meyer
  • 2. Vorsitzender: Hilding Kissler
  • Schriftführer: Carsten Albrecht
  • Beisitzer: Ivanka Kobsch und Riko Zellmer

Freitag, 18. April 2008

I keep the faith

Nur wenige Menschen wirken nicht peinlich oder verlogen, wenn sie von Menschlichkeit, Gemeinschaft und internationaler Solidarität sprechen. Billy Bragg ist einer von ihnen. Der Brite war am Dienstag in der Hamburger Markthalle. Michi und ich sind der Meinung: Das war spitze! Und ich verrate jetzt, warum.

Bisher hatte ich Bragg live immer mit seiner Band gesehen. Diesmal war er solo on Tour. Ich hatte mich auf einen gemütlichen Liedermacher-Abend eingestellt. Ein dummer Irrtum: schon das erste Stück - die E-Gitarre auf Anschlag, die Stimme klar und Rhythmus-akzentuiert - hat gerockt, dass sich die Balken bogen und die jungen bis alten Fan-Beine wippten. Bragg, der dereinst als erfolgloser Punkrocker startete und später unvertonte Woody-Guthrie-Songs einspielte, brachte die Halle zum dampfen und schließlich zum Kochen. Das Repertoire reichte von seinen alten Arbeiterliedern bis zu den neuen, souligen Tracks. Und die treue Gemeinde hing an den Lippen des coolen Predigers, ganz gleich, ob er von seiner Kindheit auf dem Bauernhof oder von seinen Stimm-Problemen auf der US-Tour plauderte oder darüber reflektierte, dass jeder zehnjährige heut die schlimmsten Schimpfwörter einfach googeln könne. Und Bragg verwahrte sich gegen Vorwürfe, er hätte seine politischen Ideale verraten, als er Beethovens Neunter einen englischen Text verpasste und das Werk vor der Queen aufführen ließ: "Hey, she came to my concert!"

Und man konnte eine Feder fallen hören, als Bragg zu seiner finalen, dann doch etwas altklugen, Abschlussrede ansätzte: Bei vielen Besuchern schwangen sicher eigene Erinnerungen und Fragen mit, als Bragg von seinem politischen Aha-Erlebnis berichtete. Ein Clash-Konzert im Londoner Eastend, im Rahmen einer Anti-Rassismus-Demo mit 100.000 Menschen, das sich in diesem Jahr zum 30. Mal jährt. Bragg merkte dort, dass er mit seinen Wünschen und Idealen nicht allein sei und dass Musik etwas verändern könne. Heute heißt sein Feind nicht mehr Rassismus oder Kapitalismus. Der Songwriter mit dem fantastischen Akzent, warnt uns stattdessen vor Zynismus. Wenn wir meinten, wir könnten nichts verändern, oder glaubten, etwas zu tun, bringe nichts, und wenn wir alles dafür täten, dass die anderen Menschen auch so denken, dann sei das die größte Gefahr unserer Zeit. Sicherlich fühlte sich der eine oder andere im Publikum - und der Schreiber dieser Zeilen möchte sich da gar nicht ausnehmen - ein kleines bisschen ertappt. Aber dann singt Billy "I Keep The Faith" - und er meint damit seinen Glauben an uns - für die bewegte Menge, und unsereins stellt fest, dass der Künstler recht hatte: Musik kann wirklich etwas verändern.

Links zum Thema

Billy Bragg im TAZ-Interview: http://www.taz.de/1/leben/musik/artikel/1/patriotismus-kann-doch-ok-sein/?src=SE&cHash=7a4c787b49

Braggs Homepage: http://www.billybragg.co.uk/

Mittwoch, 16. April 2008

Mein verlinktes Hamburg

Es soll ja wirklich sympathische Menschen geben, die Hamburg noch nicht kennen. Kündigt sich ein solcher Besuch aus der Ferne für ein Wochenende an, steht der Einheimische vor der Frage: Was zeige ich in zwei Tagen? Was muss man gesehen haben? Beschränke ich mich auf mein Hamburg oder machen wir, was die Reiseführer für unablässig erachten?

Bleiben wir hier einmal bei meinem Hamburg: Sollte der obligatorische Spaziergang einen Teil des Alsterwanderwegs entlang führen, der über mehr als 30 Kilometer vom waldigen Schleswig-Holstein durch die Alstertäler in die Innenstadt und zum Hafen führt? Oder flaniert man an der Elbe entlang, wo die gediegenen Häuser über bunten, duftenden Gärten und dem Elbstrand thronen? Und wo wird bei Sonnenschein gechillt? Auf einer der kleinen Stadparkwiesen oder in einem Café mit Alstersteg? Ach ja, Essen muss man auch noch: holt man sich frisches Obst und Gemüse, Würstchen vom Bioschlachter, würzigen Käse und betörend duftende Kräuter auf dem Goldbekmarkt, dem wahrscheinlich schönsten Wochenmarkt Hamburgs, direkt am Kanal gelegen? Oder isst man zünftig im Niewöhner, das zurecht seit beinah 90 Jahren seinen Platz in der Gertigstraße behauptet? Oder einfach mal McDonalds, Burger King oder einen Döner? Ist ja alles überall verfügbar.

Und richtig unübersichtlich wird es am Abend. Beginnt man den Abend kuschelig mit einer DVD daheim bei Chips und Gintonic, oder besucht man das Joy in Uhlenhorst, vollkommen zurecht meine Stammkneipe seit 1994? Und dann auf die Sternschanze ins Le Fonque oder in den Konsum, um anschließend im Grünen Jäger abzurocken? Vielleicht aber auch - ganz traditionell - der Kiez: Vielleicht ins Molotow und die Meanie-Bar auf der Reeperbahn oder Sorgenbrecher und Barbara-Bar auf dem Hamburger Berg. Oder man verbringt die Nacht auf einer Datscha-Party. Die Partys mit russischer, ost- und südost-europäischer Livemusik und exzellenten DJ's sind momentan die extatischsten und tanzbarsten Abende in Hamburg.

Hamburgs Auswahl könnte einen Gastgeber wirklich überfordern. Eigentlich ist aber ja das Gegenteil richtig: man kann hier nichts falsch machen. Erstrecht nicht, wenn der Besuch aus der Ferne so sympathisch ist und gar nicht Hamburg, sondern er die Hauptrolle an diesem Wochenende spielen wird.

Sonntag, 13. April 2008

Seefahrtsgeschichte zum Anfassen

Ein Tag auf einem historischen Dampf-Eisbrecher zu verbringen, ist sicher schon für sehende Besucher etwas besonderes. Als blinder oder sehbehinderter Mensch die riesigen Kohleöfen und Dampfkessel anzufassen oder das Ohr an das 75 Jahre alte Sprachrohr des Kapitäns zu legen, das ist aber einmalig.

Der Blinden- und Sehbehindertenverein Hamburg hat heute seine Mitglieder auf das Museumsschiff Stettin eingeladen. Für Menschen mit starken Sehproblemen ist es meist wichtig, Dinge in Ruhe und mit genügend Zeit ertasten zu können. Haptische Wahrnehmung, das Fühlen mit Händen, bedeutet, dass Gegenstände nacheinander erfasst werden und nicht mit einem Blick erschlossen sind. Im regulären Museumsbetrieb ist dies häufig nicht möglich. Daher versuchen wir immer wieder, Kunst, Geschichte und Wissenschaft für Hamburgs blinde und sehbehinderte Bürger erfahrbar zu machen. Wir fragen nach der Erlaubnis, Exponate ausnahmsweise berühren zu dürfen, bitten um gesonderte Führungen usw. Um so schöner ist es, wenn - wie im heutigen Fall - wir gar nicht bitten müssen, sondern ein Betreiber mit der Frage auf uns zukommt, ob wir nicht einen Veranstaltungstag für unsere Zielgruppe durchführen wollen.

Im Herbst habe ich - zusammen mit zwei Kolleginnen - den Test gemacht: Könnte so ein Tag für sehbehinderte und blinde Menschen interessant sein, wär das Ganze ohne große Unfälle realisierbar? Dr. Olaf Koglin, der Vorsitzende von Dampf-Eisbrecher Stettin e.V., führte mich die steilen Treppen hinauf und hinab, warnte mich vor niedrigen Eisenträgern und hohen Türschwellen. Er legte meine Hand auf die Hebel des Maschinentelegraphen oder drückte mir die schweren Eisenstangen in die Hand, mit denen die Asche aus den Öfen gekehrt wird. Er berichtete fundiert von der Geschichte des Schiffes, das von 1933 bis 1945 als Eisbrecher das Oder-Haff befahrbar hielt und mit dem Kriegsende - voll beladen mit Flüchtlingen - nach Kiel fuhr. Kooglin stellte uns das Engagement von Ehrenamtlern vor, die heutzutage als Heizer tonnenweise Kohle schaufeln, monatelang in winzigen Kajüten schlafen, zum Hamburger Hafengeburtstag, zur Kieler Woche oder zur Hansesail nach Rostock schippern, um ein historisch einzigartiges Schiff zu erhalten. Die Stettin ist das weltweit größte kohlebefeuerte, noch fahrfähige Dampfschiff. Für unseren heutigen Tag hatte der Jurist Koglin in Heimarbeit sogar ein Holzmodell der Stettin geschnitzt, damit unsere Mitglieder eine Vorstellung von Form und Aufbau des Schiffes gewinnen konnten. Für das tolle Engagement und für einen spannenden und lehrreichen Tag bedanke ich mich bei Dr. Koglin und seiner Crew im Namen von rund 50 begeisterten Besuchern, die heute ein Stück Seefahrtsgeschichte begreifen konnten.

Der Dampf-Eisbrecher Stettin kann im Museumshafen Oevelgönne besichtigt werden. Das Schiff ist für Veranstaltungen und Rundreisen buchbar.

Dampf-Eisbrecher Stettin: http://www.dampf-eisbrecher-stettin.de

Donnerstag, 10. April 2008

Der Mann in Lila

Dürfen Männer Lila tragen? Diese Frage wird in meinem Hamburg zurzeit sehr kontrovers diskutiert. Während die Männer, mit denen ich dieses heiße Eisen anging, weitestgehend pro-lila eingestellt waren, gab es bei den Damen Meinungen, die zwischen Ekel und Hinschmelzen schwankten. Bisher hab ich folgende Statements gesammelt: "Doch, schon O.K.", "mit so einem Mann würd ich nicht essen gehen", "manchen Männern steht's", "find ich schick", "Lila und Rosa darf man nicht in einen Topf werfen", "mich erinnert das an Jesus aus Big Lebowski", "es kommt auf den Mann und seinen Charakter an", "Lila ist die Farbe der Unbefriedigten", "Lila sieht irgendwie traurig aus", "Solche Männer sind tuffig".

Wie komme ich als blinder Mensch eigentlich dazu, einen lila Pulli im Kleiderschrank zu haben und mich somit auf ein sehr glattes Eis zu begeben? Ich habe noch Erinnerungen an Farben. Ich habe bis zu meinem siebten Lebensjahr gesehen. Außerdem benutze ich ein Farberkennungsgerät. Den Colortest hält man auf die Kleidung, drückt einen Knopf, es wird ein Lichtstrahl auf die Oberfläche geworfen, die Reflexionsdaten ausgerechnet, und dann sagt das Fernbedienungsgroße Hilfsmittel die Farbe an. Die Jeans, die ich gerade trage, ist demnach "dunkel graublau". Der Colortest verhindert, dass ich unwissentlich unpassende Farb-Kombinationen trage oder ein knallrotes T-Shirt sich in die Wäschetrommel mit der weißen Kleidung schmuggelt. Leider sagt der Colortest nicht, welche Hose zu welchem Hemd passt. Da muss ich mich weiter auf meine Kindheitserinnerungen verlassen. Ist man aber geburtsblind, hat also nie gesehen, dann sind Farben zunächst nur Wörter, deren Bedeutung man erst lernen muss. Welche Farben passen zusammen? Welche Farben sind Mischfarben und welche komplemeentär zueinander? Welche Farbe hat eine Wiese, welche der Himmel? Und - für den Alltag und die Auswahl der eigenen Kleidung vielleicht die wichtigste Frage - welche Assoziationen haben meine sehenden Mitmenschen zu den Farben? Wenn die Antwort dann so uneindeutig ausfällt wie bei lila, dann muss man sich entscheiden, wessen Meinung man sich anschließen möchte. Ich jedenfalls werde meinen Pulli bald mal wieder anziehen.

So klingt der Colortest: http://www.caretec.at/uploads/tx_sbproducts/colortest_standard.mp3

Sonntag, 6. April 2008

Er hätte heut gespielt

Heute hätte Jeff Healey in Hamburg spielen sollen. Im Fabrik-Newsletter findet sich aber nur ein Sternchen, das wie folgt definiert wird: "Am 4. März erreichte uns die traurige Nachricht, dass JEFF HEALEY am 2. März 41-jährig seinem Krebsleiden erlegen ist. Wir sind betrübt über seinen frühen Tod und den Verlust. Wir bitten alle, die sich bereits ein Ticket für das für 6. April geplante Konzert von Jeff Healey erworben haben, dieses an den Vorverkaufsstellen zurückzugeben. Und möchten gleichzeitig hinweisen auf das Ende März erscheinende, lang erwartete Healey-Album "Mess of Blues", das wir Ihrer geschätzten Aufmerksamkeit empfehlen möchten."

Jeff Healey erblindete bereits im Alter von einem Jahr durch Retino Blastom, einer seltenen Krebs-Art, die die Netzhaut befällt. Healey hatte sich das Gitarre-Spielen bereits als Kind beigebracht. Er legte das Instrument auf seinen Schoß und schlug von oben die Saiten an. Aus dem Wunderkind wurde ein begnadeter Live-Musiker, der u.A. mit B.B. King oder George Harison spielte. Der Blues-Gitarrist und Jazzer, Trompeter und Sänger war die Coolness in Person. Seine flapsigen Gags auf der Bühne durfte ich auch einmal live erleben. In der Hamburger Fabrik habe ich den Kanadier vor sieben Jahren gehört. Fantastische Gitarren-Soli, die nie langweilig wurden, sondern immer neue Facetten seines Instruments und seiner Spielkunst offenbarten, sind mir bis heut im Gedächtnis geblieben - und eine Blues-Stimme, die ans Gemüt ging. Ans Gemüt geht mir auch Healeys Tod. Zuletzt litt er unter Bein- und Lungenkrebs. Die schreckliche Krankheit sollte sein Schicksal sein.

Offizielle Homepage von Jeff Healey: http://www.jeffhealey.com/

Samstag, 5. April 2008

Mit dem Tandem nach Singapur

Ich war Freitag auf einem Dia-Abend. Den Satz hört man nicht allzu häufig aus meinem Munde. Wenn ich mir fast drei Stunden lang Reise-Dias gönne und danach sogar mehr als begeistert bin, dann muss das schon ein ganz besonderer Dia-Abend gewesen sein.

Sebastian Burger hat heut in Hamburg von seiner Blind-Cycle-Tour berichtet. Er ist zusammen mit blinden Menschen von Bremen nach Singapur geradelt: auf einem Tandem. Mit vielen humorvollen Anekdoten gespickt, erinnerte sich Burger an diese einmalige Reise. Der studierte Fotograf zeigte seine Bilder, die Anke Nicolai von Hörfilm e.V. für die blinden und sehbehinderten Besucher beschrieb. Zusätzlich spielte Burger Musik, Ton-Aufnahmen und Videoclips von der Reise ein. Die Vielfalt der Erlebnisse wurde vor den Augen der sehenden Besucher und in den Köpfen der blinden Besucher lebendig: Meterhohe Brennnesseln an deutschen Bahndämmen, der kautzige Opa mit dem gehäkelten Sattelbezug an der ungarischen Grenze, bunte, endlos weite Blumenwiesen in Rumänien, der schroffe Sozialneid in Bulgarien, die Gastfreundschaft türkischer Familien, der Frauenarzt in einem iranischen Dorf, der einen ganzen Schrank voller Kondome in der Praxis hatte, Pakistanischer Benzin-Schmuggel im Reisebus, das Chaos auf Indiens Straßen und der Gestank in den Städten, die Weite thailändischer Strände, der moderne Islamismus in Malaysya, die Gelecktheit Singapurs... Sebastian Burger beschrieb seine Erlebnisse so witzig und menschlich, Anke Nicolai die Fotos so präzise und gekonnt, dass keine Langeweile entstehen konnte. Für die blinden Mitfahrer muss es ein unvergessliches Erlebnis gewesen sein, bei der Blind-Cycle-Tour dabei gewesen zu sein. Und gleichzeitig haben sie Burger eine wesentlich kommunikativere Fahrrad-Tour beschert, als er es mit sehenden Mitfahrern bisher erlebt hatte. Das ist gelebte Integration. Ich jedenfalls würde am liebsten sofort eine Tandem-Fahrt durch Rumänien starten und dort abends auf den feuchten Wiesen, neben den Wasserbüffeln mein Zelt aufschlagen.

Links zum Thema

Infos zur Veranstaltung auf bsvh.org: http://www.bsvh.org/news/41/37/

Sebastian Burgers Homepage: http://www.globetreter.de/

Hörfilm e.V.: http://www.hoerfilmev.de/

Donnerstag, 3. April 2008

Emotionsvokabeln

Als ich vor über sieben Jahren begann, E-Mails zu lesen und zu schreiben, da begegneten mir schon bald kryptische Aneinanderreihungen von Satzzeichen, die für mich überhaupt keinen Sinn ergaben. Meine Synthetische Sprachausgabe las plötzlich - unvermittelt und mitten im Text - "Doppelpunkt Minus Klammer Zu". Was sollte das? Zur Kontrolle las ich mithilfe der Braille-Zeile den selben Text in Blindenschrift. Auch dort nur Satzzeichen, die so keinen Sinn ergaben. Inzwischen habe ich gelernt, dass sich hinter diesen Satzzeichen große Gefühle verbergen können.

Gerade im privaten Mailverkehr sind sie heute für viele Menschen nicht mehr wegzudenken: die sog. Emoticons. Emoticon verknüpft die Wörter Emotion und Icon. Und ich musste lernen, dass diese Satzzeichen-Ketten für den sehenden Betrachter stilisierte Gesten, Gegenstände oder Gesichtsausdrücke darstellen. Sie stehen für ein Lächeln, Trauer oder einen Kuss. In der Blindenschrift fallen diese Assoziationen weg, da die Braille-Zeichen lediglich auf verschiedenen Punkte-Kombinationen beruhen und rein äußerlich mit dem Alphabet der Sehenden nichts gemein haben. Ich musste die Emoticons und ihre Bedeutungen auswendig lernen, ähnlich wie Vokabeln einer Fremdsprache. Inzwischen haben findige Programmierer der Sprachausgabe meines PC's beigebracht, statt "Doppelpunkt Minus Klammer Zu" Smilie zu sagen. Und wenn eine Blind-PR-Leserin aus der Ferne grüßt und kommentiert und sich dabei weigert, Ihre Haarfarbe preiszugeben, dann ergänzt sie zur Sicherheit mit ;-) und meine Sprachausgabe nennt dies Gebilde "Zwinkersmilie". Dann bin auch ich sicher, dass die sympathische Kommentatorin wirklich nur flachst. Ich nutze die Emoticons heutzutage wie selbstverständlich, einmal gelernt, vergesse ich sie so schnell nicht mehr - eben ganz ähnlich wie Vokabeln.

Wikipedia über Emoticons: http://de.wikipedia.org/wiki/Emoticon